Ein Kommentar.

Ob sich die Debatte über die mutmaßliche schwulenfeindliche Diskriminierung eines Berliner Lehrers nunmehr in parteipolitische Niederungen senkt, oder kurz vor einer weiteren Eskalation steht, lässt sich schwer abschätzen.

Ein Lehrer einer Berliner Grundschule beklagte bereits im Jahr 2024 Mobbing und falsche Vorwürfe durch eine Kollegin. Er kritisierte Schulleitung, Schulaufsicht und Bildungsverwaltung, ihm nicht geholfen zu haben.

Nach mehreren Monaten wandte er sich sowohl an einen Rechtsbeistand, als auch an die Medien. Daraufhin eskalierte der Vorgang und und der Umgang damit wurde nunmehr auch zu einer politischen Frage.

Nach einer im Auftreten sehr robusten Selbstverteidigung von Bildungs- Jugend und Familiensenatorin Günther-Wünsch (CDU) in der Sitzung des Bildungsausschusses vom 05.06.2025 (ich berichtete), musste selbige sich nun jüngst korrigieren und stellte richtig, dass sie einen Brief des Rechtsbeistands des Lehrers bereits sehr viel früher gelesen hat, als bisher von ihr angegeben.

Der Staatssekretär für Integration, Antidiskriminierung und Vielfalt, Max Landero (SPD) erklärte in der gemeinsamen Sitzung des Bildungsausschusses mit dem Ausschuss für Integration, Frauen, Gleichstellung, Vielfalt und Antidiskriminierung vom 19.06.2025, dass er „Ansätze von strukturellem Versagen“ sähe. Senatorin Günther-Wünsch ihrerseits widersprach Vorwürfen eines strukturellen Versagens bereits in den Tagen zuvor.

Die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus, Bettina Jarasch, forderte die Senatorin nach der jüngsten Richtigstellung auf, sich beim betroffenen Lehrer zu entschuldigen und mahnte eine angemessene Bearbeitung seiner Beschwerde an. Der schulpolitische Sprecher der Grünen, Louis Krüger, fordert Transparenz über Abläufe und Zusammenhänge und will wissen, wer welche Verantwortung trägt. Ende Juni wird eine Reihe von Abgeordneten aller Fraktionen Akteneinsicht nehmen.

Aktuell geht es also darum, wer wann was gelesen hat und wie die verschiedenen Fraktionen im Abgeordnetenhaus diesen Vorgang jeweils einordnen. Der Vorgang ist zu einer „Causa Günther-Wünsch“ geworden. Der Tagesspiegel stellte bereits vor 14 Tagen die Frage, ob sie die richtige Person für das Amt wäre und die sich möglicherweise aufdrängende Notwendigkeit eines Rücktritts in den Raum, sollte der Vorgang nicht aufgearbeitet werden.

Das ist insofern folgerichtig, als dass sie die politische Verantwortung dafür trägt, wie ihr Haus mit einem solchen Fall umgeht. Aber gleichwohl es die Verantwortung der Senatorin ist und bleibt, wie sie mit dem Fall umgeht, lässt sich kaum ausschließen, dass die „Arbeitsebene“ mit dem Vorgang unter einem x-beliebigen anderen Senatsmitglied anders umgegangen wäre. In diesem Zusammenhang sollten sich auch die vormaligen R2G-Partner drängende und selbstkritische Fragen stellen.

Der Vorwurf des „strukturellen Versagens“ ist kaum von der Hand zu weisen und es wäre auch, gelinde formuliert, nicht das erste Mal, dass es an Berliner Schulen Mobbing und Diskriminierung gegeben hätte. Es ist ein nicht haltbarer, aber seit Jahren andauernder Zustand, dass die Bildungsverwaltung oft erst dann unter Handlungsdruck gerät, wenn ein Betroffener sich genötigt sieht, zu eskalieren und zwangsläufig auch seinen Namen in die Presse zu tragen, häufig zum eigenen weiteren Schaden.

Der „Kern“ des administrativen Problems besteht meines Erachtens im Fehlen einer unabhängigen Beschwerdeinstanz und in den Abhängigkeiten der einzelnen Hirarchieebenen untereinander. Eine Beschwerde über eine Schulleitung ist bei der Schulaufsicht einzureichen. Diese hat zwar diverse Weisungsrechte gegenüber einer Schulleitung, ist aber (allein schon von den personellen Kapazitäten her) weder in der Lage, Mißstände in Schulen aufzuklären, noch deren Lösung wirklich zu begleiten.

Hinzu kommt, dass das Verhältnis der Schulaufsichten zu ihren Schulleitungen eines der gegenseitigen Abhängigkeiten ist, bei denen die Schulaufsicht zwar in der Hirarchie oben steht, aber immer auf die Kooperation ihrer Schulleitungen angewiesen ist und per gesetzlichem Auftrag überwiegend „beraten“ und nicht steuern soll und deswegen auch kaum steuern kann.

Dies führt dazu, dass Beschwerden über Schulleitungen, gleich, von wem sie kommen, häufig zwischen diesen beiden Instanzen und ihren wechselseitigen Abhängigkeiten „zerrieben“ werden und allzu häufig erst dann ernsthafte Beachtung finden, wenn sie medial eskalieren. Beispiele hierfür gab es in den vergangenen Jahren zur Genüge und auch der Autor dieser Zeilen war ums eine oder andere Mal an solch unrühmlichen Vorgängen als Elternvertreter beteiligt.

„Strukturelles Versagen“ meint insofern nicht, dass eine Vielzahl von Schulleitungen absichtlich diskriminierend handeln würde, sondern dass das System so konzipiert ist, dass es im Fall von Diskriminierungen aus sich heraus kaum in der Lage ist, zu einem anderen Umgang mit solchen Fällen zu finden, sondern vom Handeln einzelner Akteure abhängig wird.

Auch eine einzelne Antidiskriminierungsbeauftragte für die 800 Berliner Schulen wird hieran bei allem Respekt für diese Aufgabe nichts ändern können. Warum das so ist, hat mir einer ihrer Amtsvorgänger im Podcast verraten.

Aber: dieser Vorgang ist kein Problem, das die Bildungsverwaltung exklusiv für sich gepachtet hat. Jenseits von innerbehördlicher Aufklärung muss der Blick auch „nach außen“ gerichtet werden und da sieht es bekantermaßen wenig erbaulich aus:

Diskriminierungen, Gewalt, Extremismen, Frauen- und Queerfeindlichkeit und jegliche weitere Formen von autoritärem Agieren nehmen seit Jahren in allen Millieus zu. Die Studienlagen, Wahlergebnisse und auch die Polizeistatistiken hierzu sind eindeutig. Immer mehr verabschiedet sich auch die Politik vom Anspruch, Menschen zusammenzubringen und alle vertreten und mitdenken zu wollen. Diese Tendenzen finden sich unter Erwachsenen und insofern auch – eigentlich wenig überraschend – unter Kindern und Jugendlichen.

Ein Gipfel zu Radikalisierungsdynamiken unter Jugendlichen ist überfällig. Statt lediglich Symptome zu behandeln und eine Altersbeschränkung für soziale Netzwerke zu diskutieren, wie es dieser Tage passiert, müssten sich die Jugend- und Familienminister:innen von Bund und Ländern an einen Tisch setzen, Expert:innen anhören und zusammen mit angrenzenden Ressorts Strategien und Konzepte entwickeln, um dem wirklich gegenzuwirken (was eine höhere Altersgrenze für soziale Netzwerke aber nicht weniger richtig machen würde).

Dass ein schwuler Lehrer gemobbt wurde, ist schlimm und aufzuklären, aber in der Gesamtbetrachtung nur ein Symptom einer allgemeinen Entwicklung. Die eigentlich politische Frage ist insofern nicht, wann die Bildungssenatorin ein Schreiben gelesen hat (oder nicht), sondern ob sie in der Lage ist, die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung zu erkennen, zu analysieren, zu beschreiben, sich beraten zu lassen, die richtigen Konsequenzen zu ziehen und auch ihre Partei und Koalition mitzunehmen. An dieser Stelle bin ich skeptisch.

Vorweg: Bildungssenatorin Günther-Wünsch überzeugt durch bildungspolitische Sachkenntnis und Durchsetzungsfähigkeit wie niemand Anderes in ihrem Landesverband, in der sie tragenden Fraktion und in ihrer Hausspitze. Sie hat ein Verständnis von Bildungspolitik, erklärt diese unablässig, reist (mittlerweile zum zweiten Mal) durch die Bezirkselternausschüsse, stellt sich öffentlichen Debatten und sucht sich institutionelle Partner, um ihre Politik umzusetzen. Das ist sehr gut.

Aber: für die nötigen gesellschaftlichen und politischen Deradikalisierungsprozesse braucht es jemanden, der/die mehr zuhört, als erklärt, der/die bereit ist, Ratschläge anderer anzunehmen und der Deutungshoheiten abzugeben bereit ist.

Mit Blick auf die Anhörungen zur 2024er Schulgesetznovelle, die gescheiterte Stabstelle für politische Bildung, die verstolperte öffentliche Debatte um den Religionsunterricht, ihr Auftreten in den jüngsten Bildungsausschusssitzungen, die von ihr verantworteten Kürzungen u.A. bei der Demokratiebildung und der sozialen Arbeit, aber auch auf den Umgang ihrer eigenen Fraktion und Partei mit Extremismen muss man die diesbezügliche bisherige Bilanz als mehr als gemischt betrachten.

Dass die Bildungssenatorin „Schreiben, Rechnen, Lesen“ zum „Kerngeschäft“ der Schulen erklärt hat und Demokratie- und Wertebildung diesem nachgeordnet hat, sagte schon 2023 wenig über das Schulgesetz aus, aber viel über das Bildungsverständnis der Senatorin. Mit einem Bildungsverständnis, das Werte und Demokratiebildung als nachrangig betrachtet, werden wir in diesen Zeiten nicht weiterkommen.

Der Fall um den betreffenden Lehrer und der Umgang mit diesem erscheinen insofern auch nicht wie ein Betriebsunfall, sondern sind über kurz oder lang auftretende logische Konsequenz solcher Betrachtungsweisen.

Auch eine zu beobachtende widersprüchliche Wahrnehmung von Extremismus und Diskriminierungen in der sie tragenden Fraktion und Partei wird nicht helfen, um den gesellschaftlichen Problemen entgegenzuwirken:

  • Dass die Senatorin sich nach dem 07. Oktober 2023 und auch im Nachgang immer wieder gegen Antisemitismus ausgesprochen hat, als er aus muslimischen Millieus kam, war richtig. In ihrer Amtszeit als KMK-Präsidentin erließ sie u.A. eine Pressemitteilung und erklärte hierin „Für mich ist klar: wir müssen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit konsequent entgegentreten. Immer und überall.“ (Link). Umso lauter war das Schweigen, als ihre Fraktionskollegin im Bildungsausschuss, Dr. Claudia Wein (CDU) den Antisemiten Treitschke („Die Juden sind unser Unglück“) vor laufender Kamera glaubte, zu verteidigen, indem sie darstellte, er wäre „kein Antisemit wie die Nazis“ gewesen, da er gewollt hätte, dass Juden durch Anpassung zu Deutschen würden und damit selbst Antisemitismus verbreitetete. Es war bei ihr auch nicht der erste fragwürdige Vorfall dieser Art in diesem Zusammenhang.
  • Im November wandte sich der Berliner Landesschülerausschuss (LSA) mit einem Forderungspapier an den Senat. Dieses Schreiben veröffentlichte der LSA auch im Rahmen eines Gastbeitrags auf diesem Blog. Hierin wiesen die Schülervertretenden auf eine Zunahme extremistischer Einstellungen, auch in den Teilbereichen Rechtsextremismus und Antisemitismus hin und forderten einen ressortübergreifenden runden Tisch, um dem Problem zu begegnen. Es passierte nichts, bis sich der LSA Anfang Januar 2025 gezwungen sah, an dieses Schreiben presseöffentlich zu erinnern.
  • Eine SPIEGEL-Recherche enthüllte Verbindungen des Berliner CDU-Abgeordneten Robbin Juhnke zur ultrarechten Schülerverbindung Iuvenis Gothia, deren Verbindungshaus in der Szene auch „braune Wolfsschanze in Zehlendorf“ genannt wird. Seine Fraktion wollte in dem Fall keine Konsequenzen ziehen, da er nach eigener Aussage schon länger nicht mehr dort aktiv war und ausgetreten ist (Link).
  • Im Rahmen der Gedenkfeier zum 80. Jahrestags des Kriegsendes erklärte der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) mit Blick auf antisemitische Gewalttaten „Meine Damen und Herren, wir meinen es ernst in Berlin, wenn wir sagen, „Berlin ist und wird auch immer die Stadt der Vielfalt sein.“ (Applaus im Saal, Anm.). Aber ich sage es auch ganz klar: wir werden auch weiterhin mit der ganzen Härte des Rechtsstaats handeln, wenn unsere Gesetze, oder die Rechte anderer missachtet werden. Wenn unsere Werte einer pluralistischen und freiheitlich-demokratischen Gesellschaft nicht anerkannt, oder schlimmer noch: mit Füßen getreten werden.“ (Schweigen im Saal, Anm.). Er erklärte damit Antisemitismus zu einer Folge von Vielfalt und Migration. Das negiert nicht nur, dass Antisemitismus in allen Millieus vorkommt (sogar in seiner eigenen Fraktion und Partei), sondern auch, dass Antisemitismus keine Folge von Vielfalt, sondern vor Allem eine Folge von Einfalt ist.
  • Bis heute ist mir nicht ganz klar, weshalb die CDU-gestellte Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses Cornelia Seibeld, (an derer Amtsführung ich keinerlei Zweifel habe), unhinterfragt bei beinahe jedem öffentlichen Foto mit Kruzifix am Hals posiert, während sich die Senatskoalition darüber streitet, dass insbesondere ein muslimisches Kopftuch bei Lehrerinnen bereits aus sich heraus eine Beeinträchtigung des Schulfriedens darstellen würde. Warum sollen für muslimische Lehrerinnen strengere Regeln gelten, als für die protokollarisch höchste Vertreterin des Landes Berlin und was gefährdet den Schulfrieden wirklich: ein Stück Stoff, oder das Auftreten von Personen oder die Reaktion von Personen auf Personen? Was wird hier eigentlich diskutiert und wie müsste die Debatte wirklich geführt werden, wenn man es denn ernst meinen würde mit der Diskriminierungsfreiheit, dem gesellschaftlichen Frieden und der Demokratie?

Allzu häufig bündeln sich Queerfeindlichkeit, Rassismen, Nationalismen, patriarchale Strukturen, Antisemitismus und andere unappetitliche „Phänomene“ sowohl personell, als auch medial. Dies passiert in allen Millieus, gleich, ob sie migrantisch oder nicht sind, reich oder arm, ob progressiv oder konservativ, „bildungsbürgerlich“ oder nicht.

Die dahinter liegenden Probleme benötigen ernsthafte und glaubwürdige Debatten und wo nötig eine behördliche Begleitung. Diese Debatten gelingen aber nicht, indem sie bemäntelt werden und auch nicht, indem man sie ethnisiert, klassifiziert, kulturalisiert, Probleme nur selektiv benennt, oder ihre Lösung zur Frage einer behördlichen Ablauforganisation verzwergt.

Diese Debatten zu führen und ein gemeinsames Verständnis von Respekt, Teilhabe und Zivilcourage zu fördern muss insbesondere die Aufgabe einer Senatorin sein, die für die Belange von Familien, Kindern und Jugendlichen zuständig ist und die dabei auch die Bildung repräsentiert, wie kaum ein anderes Senatsmitglied.

Es geht nicht nur um das Datum der Kenntnisnahme einer eMail und darum, diesbezüglich die Wahrheit zu sagen.

Es geht um das Zusammenleben in dieser Stadt und dessen Mitgestaltung. Senatorin Günther-Wünsch wird zeigen müssen, dass sie nicht nur erklären, sondern auch moderieren kann und dass auch ihre Partei und Fraktion sich den dafür nötigen Debatten stellt, um glaubwürdiger Partner im Kampf gegen Diskriminierung und Extremismen zu sein. Dass sie selbst gewillt und in der Lage ist, derartige Vorfälle in ihrem Haus aufzuklären, für die Zukunft zu vermeiden und Betroffene zu schützen.

Im aktuellen Fall ist insbesondere Letzteres nicht gelungen. Leidtragender ist die betreffende Lehrkraft.