Um politische Entscheidungen und ihr Zustandekommen zu verstehen, ist es häufig hilfreicher, nicht primär darauf zu achten, was zu einem Thema gesagt wird, sondern wie (und von wem) über ein Thema gesprochen wird, wessen Perspektiven berücksichtigt werden und welche Perspektiven nicht hinzugezogen werden.
Das gilt umso mehr bei Themen, die vorgeblich Konsens sind wie der (schulischen) Inklusion. Niemand von den demokratischen Fraktionen im Abgeordnetenhaus bestreitet nach meiner Kenntnis öffentlich das Ziel der Inklusion, Differenzen werden in Debatten aber immer wieder deutlich und deutlich gemacht, wenn es um die Fragen von Umfang und Tempo und die zu berücksichtigenden Perspektiven geht.
Diese Differenzen sind bisweilen so groß, dass sich mit Blick auf die einen oder anderen Akteur:innen die Frage auftut, ob sie die gesellschaftliche Teilhabe und Bildung für alle wirklich anstreben, oder ob mit der Argumentationslinie „Wir dürfen niemanden überfordern“ ein Stop oder gar eine Rückabwicklung des bisher Erreichten angestrebt werden soll.
Vorweg: die Debatte ist genauso kompliziert wie die Materie selbst. Man kann (und muss) beispielsweise über die tatsächliche oder vermeintliche Stoßrichtung der neuen Zumessungsrichtlinien für schulisches Personal diskutieren und das findet auch statt. Ebenso ist festzuhalten, dass der Anspruch der Inklusion keine einfachen Lösungen kennt.
Die im Ausschuss besprochenen Probleme sind zum Teil tradiert und mehrere Legislaturperioden und Senatskoalitionen alt. Ich konzentriere mich aber im Wesentlichen auf die aktuellen Entscheidungen und Darstellungen der aktuellen Senatskoalition.
Es lohnt sich, den Blick mal aus einer grundsätzlicheren Perspektive aufzumachen und hierfür „eignete“ sich diese Ausschusssitzung gleich in mehrfacher Hinsicht. Sie bündelte „Talking points“ und Stilmittel der politischen Debatte um Inklusion und wurde an der einen oder anderen Stelle auch unfreiwillig ehrlich.
Die Fragen, die mich interessieren:
- Warum wird Inklusion nach wie vor nicht umgesetzt, obwohl die Bundesrepublik bereits im Februar 2009 der UN-Behindertenrechtskonvention beigetreten ist?
- Warum nimmt die Debatte kein Ende und an welchen Stellen und von wem werden Normverschiebungen vorgenommen (die verschieben sich ja nicht von allein).
- Wer bemüht sich um die Inklusion und wer bremst sie mit welchen Mitteln aus?
- Wessen Perspektiven zählen und wessen Perspektiven finden nicht statt, oder werden gar ausgegrenzt?
Antworten auf diese Fragen fanden sich auch in der Sitzung des Bildungsausschusses vom 05.06.2025 und die Sitzung war insofern exemplarisch für die generelle Debatte. Um diese greifbar zu machen, wird sich diese textliche Aufbereitung von anderen Beiträgen auf diesem Blog etwas unterscheiden, aber erstmal…
Bericht aus der Senatsverwaltung
Zum Einstieg knüpfe ich an meinen vorherigen Beitrag an und ergänze. Der „Bericht aus der Senatsverwaltung“ ist ein regulärer Tagesordnungspunkt in jeder Sitzung und resultiert aus der Rechenschaftspflicht des Senats gegenüber dem Parlament. Im Gegensatz zur „Aktuellen Viertelstunde“ entscheiden Senatorin und Staatssekretär:innen selbst darüber, was sie berichten. Ich beziehe mich auf die Aufzeichnung der Ausschusssitzung und die darin zu machenden Beobachtungen. Die Aufzeichnung findet sich hier.
Für regelmäßige Beobachter:innen der Ausschusssitzungen dürfte es ungewohnt gewesen sein, dass Staatssekretärin Henke (CDU) an dieser Stelle das Wort übernahm, da Senatorin Günther-Wünsch (CDU) es sich in der Vergangenheit zumeist vorbehielt, zu Themen aus dem Komplex Bildung selbst zu berichten, während ihre Staatsekretärin zumeist eher am Rande der Tagesordnungen das Wort ergriff und hauptsächlich ihre Staatssekretäre Liecke (Jugend und Familie) und Dr. Kühne (Schulbau und Schuldigitalisierung) aus ihren Fachbereichen berichteten.
Die Staatssekretärin verlas, dass die Senatorin an der Sitzung der Jugend- und Familienministerkonferenz teilgenommen hat und berichtete hieraus. Die Senatorin selbst saß daneben, sortierte raschelnd und reißend Inhalte ihrer Akten und unterhielt sich angeregt mit dem auf der zu ihrer anderen Seite sitzenden Staatssekretär Liecke (ebenfalls CDU).
Dieser war hierdurch offensichtlich so abgelenkt vom Ausschussgeschehen, dass er nach Staatssekretärin Henke das Wort ergriff und ebenfalls begann, von der Sitzung der Jugend- und Familienministerkonferenz zu berichten.
Die Senatorin intervenierte sichtlich amüsiert und wies ihn daraufhin, dass dieser Bericht bereits verlesen worden sei. Zu Beginn eines späteren Punktes seines Berichts fragte er mit Blick zur Senatorin „Hat se’s auch schon erzählt?“, die daraufhin in ein amüsiertes Lachen verfiel.

Wie die Staatssekretärin, deren schriftlich verfasster Vortrag zuerst durch Rascheln und Klappern und das Nebengespräch der Senatorin gestört und von ihrem Staatssekretärskollegen offenkundig ignoriert wurde, darauf reagiert hat, dass sich beide nun mitten im Parlamentsausschuss öffentlich über sie, aber scheinbar nicht mit ihr amüsierten, ist nicht bekannt, da die Kamera diese Reaktion nicht eingefangen hat.
Bemerkenswert ist diese Sequenz insofern, als dass es sich in ihr um die gleiche Senatorin handelt, die sich keine 15 Minuten vorher aus gegebenem Anlass gegen Vorwürfe verwahrt hat, sie würde sich in ihrem Geschäftsbereich nicht ausreichend um einen respektvollen Umgang mit Mitarbeitenden bemühen (ich berichtete).
Darüber hinaus wirft diese Sequenz auch unfreiwillig die Frage auf, wie ernsthaft die Hausspitze an die Vorbereitung ihrer Berichte gegenüber dem Parlament geht, wenn beide Staatssekretär:innen das gleiche Thema auf dem Berichtszettel haben und wie ernst man es angesichts der Zwiegespräche und des Aktensortierens während des Vortrags der Staatssekretärin mit der Würde des hohen Hauses meint.
Die Vorsitzende jedenfalls sah hierin keinen Anlass zur Intervention. Ich erlaube mir an dieser Stelle etwas Pathos und Zugewandtheit gegenüber „meinem“ Parlament: wer, wenn nicht der Senat und erst Recht eine Vorsitzende eines Parlamentsausschusses sollten gerade in einer Zeit, in der der Parlamentarismus permanent verächtlich gemacht wird, die Autorität und die Würde eines Parlaments wahren und deren Wahrung im Zweifel einfordern?
Die Abgeordnete Burkert-Eulitz (Bündnis 90/Grüne) wollte in einer Nachfrage zum Bericht des Senats die Haltung des Landes Berlin zur Aussage des Bundeskanzlers erfahren, dass die Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII überprüft werden müsse. Dieser hatte erklärt, „Dass wir allerdings über Jahre hin jährliche Steigerungsraten von bis zu zehn Prozent bei der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe sehen, ist so nicht länger akzeptabel. Da müssen wir gemeinsam nach Wegen suchen, wie den zu Recht Bedürftigen genauso Rechnung getragen wird wie der Leistungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte.“
Hierfür erhielt er scharfe Kritik, da es sich bei den Eingliederungshilfen um Individualleistungen handelt, die auf nachgewiesenen Bedarfen beruhen und wurde dem Vorwurf ausgesetzt, dass er bei den Schwächsten der Gesellschaft kürzen wolle. Die Lebenshilfe erklärte hierzu „Die Steigerungen sind vielmehr auf die allgemeine Kosten- sowie die Tariflohnentwicklung zurückzuführen. Außerdem nehmen die Fallzahlen in der Eingliederungshilfe zu. Das ist eine Folge des demografischen Wandels und des medizinischen Fortschritts, der die Lebenserwartung auch von Menschen mit Behinderung erhöht.“
Die Senatorin erklärte in ihrer Antwort, dass die „Inklusive Kinder- und Jugendhilfe dafür sorgt, dass nahezu alle Kommunen an ihre finanzielle Belastbarkeit kommen“ und an dieser Stelle ist die Debatte gleich zu Beginn in ihrem Kern angekommen. Die inklusive Kinder- und Jugendhilfe ist ein Teil der getroffenen Maßnahmen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Die dort festgehaltenen Rechte auch von Kindern und Jugendlichen sind Ansprüche, die Kinder und Jugendliche gegenüber dem Staat haben (ich habe das Thema an anderer Stelle umfangreicher aufbereitet).
Zu erklären, dass die „Inklusive Kinder- und Jugendhilfe dafür sorgt, dass nahezu alle Kommunen an ihre finanzielle Belastbarkeit kommen.“ ist insofern eine sprachliche Verdrehung von Ursache und Verantwortlichkeiten. Man könnte dies für eine sprachliche Ungenauigkeit halten und das Aufschreiben selbiger für Kleinlichkeit, diese ist aber ein Muster, welches sich in der Debatte um Inklusion häufig wiederfindet und ein Teil der Antwort sein dürfte, weshalb wir als Bundesrepublik bei der Inklusion kaum vorankommen.
Die inklusive Kinder- und Jugendhilfe ist ein Anspruch, den Kinder und Jugendliche haben und der auf der Erklärung der Menschenrechte und der auch daraus abgeleiteten und vom Bundestag 2008 angenommenen und 2009 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention basiert. Als Bundestagsabgeordneter am Ratifizierungsprozess beteiligt war übrigens auch der heutige Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU).
In der UN-BRK geht es wesentlich darum, dass Kindern und Jugendlichen die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht wird. Zu erklären, dieses Teilhabeversprechen sei dafür verantwortlich, dass Kommunen an ihre Belastbarkeitsgrenze kommen, ist insofern grundfalsch, als dass eigentlich die Frage zu stellen ist, wie Kommunen in die Lage versetzt werden können, dieses Teilhabeversprechen zu erfüllen. Hieran sind nicht Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedarfen „schuld“, sondern diejenigen, die die Kommunen nicht hinreichend befähigen, diese Ansprüche zu erfüllen.
Die Senatorin ergänzte, dass es bei der Neuregelung des SGB VIII (dies ist im Koalitionsvertrag der Bundesregierung festgehalten) auch darum gehen müsse, die Finanzierung zwischen Bund und Ländern neu zu regeln. Dies kann man für eine Forderung nach auskömmlicher Finanzierung werten. Die Kombination der Aussage des Bundeskanzlers in Kombination des „Verantwortlichkeitsframings“ durch die Senatorin spricht aber eine andere Sprache und trifft sich widerum mit der insgesamt zu beobachtenden Entwicklung beim Thema Inklusion und der Debatte um selbige.
Die schulische Inklusion
Angemeldet wurden mehrere Tagesordnungspunkte zur Inklusion, die zusammengefasst und mit einer Anhörung von Expertinnen und Experten verbunden wurden. Diese waren:
- „Inklusion von allen Kindern und Jugendlichen: Wieso macht der Senat eine Rolle rückwärts?“ (Bündnis 90/Die Grünen). Antragsbegründung
- „Aktueller Stand der Inklusiven Bildung in Berlin: Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten“ (Die LINKE) Antragsbegründung
- „Bedarfe und Entwicklungsperspektiven von Förderzentren“ (CDU und SPD) Antragsbegründung
Marianne Burkert-Eulitz (Bündnis ’90/Die Grünen) kritisierte in ihrer Begründung zum Antrag der Grünen, dass Ressourcen fehlten, die Abstimmung zwischen beteiligten Fachstellen nur unzureichend gelinge, dass viele Kinder nicht oder nur unzureichend beschult würden, was Familien belaste bis zum Auseinanderbrechen und bis zur Arbeitslosigkeit und Armut und dass Kinder „systematisch von ihrem Recht auf Bildung ausgeschlossen“ würden.
Es fehle an Beratung für Familien, aber auch an Weiterbildung für Fachkräfte. Die neue Sonderpädagogikverordnung würde auf mehr Sonderbeschulung setzen, was „ein klarer Schritt rückwärts“ sei. Es sei unbekannt, wie viele Kinder nicht beschult würden.
Eine Rechtsgrundlage für eine verkürzte Beschulung würde fehlen. Eine „AV USE“ (Ausführungsvorschrift zum Verfahren der Abstimmung bei der Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen in Form ergänzender Leistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe in der allgemeinbildenden Schule) sei noch in Arbeit und müsse schnell zustandekommen.
Franziska Brychcy (DIE LINKE) konstatierte im Namen ihrer Fraktion „massive Rückschritte“ und bezog sich hierbei insbesondere auf Neuregelungen zur Schulpflicht bei Kindern mit mehrfachen Förderbedarfen im Rahmen der letzten Schulgesetznovelle und Neuregelungen in der Sonderpädagogikverordnung.
Die für sie offene Frage ist die, ob gesonderte Beschulung eine dauerhafte oder eine temporäre Lösung sein soll. Die kommende Zumessungsrichtlinie hält sie für falsch, da diese Sonderpädagogikstunden „mit der Gießkanne“ auf die Schulen verteilen und nicht berücksichtige, inwieweit Schulen inklusiv arbeiten.
Die SIBUZe würden beim inklusionspädagogischen Teil nicht mehr verstärkt, anders, als bei der Schulpsychologie. Die freien Schulen sollen in den Zuständigkeitsbereich der SIBUZe aufgenommen werden, was die Fraktion DIE LINKE begrüßt. Dass „2.800“ Schülerinnen und Schüler ganz oder teilweise nicht beschult würden, müsse „alarmieren“.
Sie appellierte an die Verantwortung der Abgeordneten und der Bildungsverwaltung, jedem Kind eine Beschulung zu ermöglichen. Sie wolle die Gelingensbedingungen in der Anhörung debattieren.
Sandra Khalatbari (CDU) wechselte ihren „Hut zur Rolle als bildungspolitische Sprecherin der CDU“ und begründete den angemeldeten Besprechungspunkt von CDU und SPD. Die Koalition wolle sich über die „gewachsene und vielfältige Förderlandschaft in Berlin, die anerkannt ist und gleichzeitig die Elternrechte stärkt, gemeinsam austauschen“. Die verschiedenen Angebote der sonderpädagogischen Förderung seien „nicht zufällig entstanden, sondern das Ergebnis jahrelanger Erfahrungen, die auf die tatsächlichen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen eingehen.“
Sie erklärte weiterhin:
„Einseitige Forderungen nach ausschließlich gemeinsamem Unterricht helfen hier wirklich nicht weiter. Inklusiver gemeinsamer Unterricht und der Unterricht in Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt beziehungsweise verschiedenen Formen von Kleinklassen ergänzen sich nach wie vor sehr sinnvoll.“ so die Sprecherin der CDU-Fraktion.
Eltern haben ein gesetzlich garantiertes Wahlrecht, das passende Setting für ihr Kind zu wählen und die Eltern schätzen dieses breit gefächerte Angebot. Wir sehen, dass insbesondere die Zahl der Kinder mit schweren geistigen Behinderungen und ausgeprägtem Autismus seit Jahren zunimmt. Das erfordert ein deutlich erweitertes Angebot an spezialisierten Förderzentren inklusive eines adäquaten Raum- und Funktionsprogramms, das den realen Bedarfen der Schülerinnen und Schüler gerecht wird.
Gerade für Schülerinnen und Schüler mit schweren Ausprägungen von Autismus ist der gemeinsame Unterricht nicht immer die richtige Lösung. Diese neurodivergierenden Kinder und Jugendlichen haben ein individuelles Recht auf ihr individuelles Bedürfnis nach Struktur und Ruhe. Ähnliches gilt für psychische Erkrankungen, wo Nachsorgeklassen an Krankenhausschulen natürlich dringend auch gebraucht werden.
Als Zwischenlösung benötigen wir natürlich schnell mehr Kleinklassen für geistige Entwicklung an allgemeinbildenden Schulen und natürlich auch ein klares Bekenntnis zum weiteren Ausbau von Kleinklassenangeboten im Allgemeinen für die unterschiedlichen Förderbedarfe von Schülerinnen und Schülern, aber natürlich auch im Bereich der emotional-sozialen Entwicklung.
Und auch für die Fachkräfte an den Schulen, in den Schulen ist es natürlich wichtig, dass die Strukturen stimmen. Der Raum- und Fachkräftemangel bremst natürlich auch die nötigen Angebote auch aus, was wir alle leider zur Kenntnis nehmen müssen und wogegen wir gemeinsam versuchen, anzugehen und zu unterstützen, dass es besser wird.
Deshalb ist konkret der Ausbau von Nachsorgeklassen für psychisch kranke Kinder, die Umwandlung bestehender Schulen und die Planung neuer Standorte gerade im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie notwendig. Dies sind die richtigen Schritte, um die dringend benötigten Vorsorgen sicherzustellen.
Wir betonen ausdrücklich: inklusiver Unterricht und Unterricht an Förderzentren sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich. Viele Eltern wollen selbst entscheiden können, was für ihr Kind das Beste ist und dieses Wahlrecht müssen wir auch sichern. Wir möchten mit dieser Besprechung sicherstellen, dass wir allen Kindern und Jugendlichen in Berlin gerecht werden, dass wir Eltern nicht im Regen stehen lassen und dass wir ideologische Grabenkämpfe vermeiden. Es geht darum, passgenaue Angebote zu schaffen und gleichzeitig die Wahlfreiheit der Eltern zu stärken.“
Diese Darstellung der bildungspolitischen Sprecherin ist geradezu exemplarisch für die allgemeine Debatte über Inklusion und ihre Verdrehungen. Die Darstellungen, man wolle jedem Kind gerecht werden, man baue deshalb gesonderte Schulstandorte und man wolle das „Elternwahlrecht stärken“ klingen im ersten Moment zugewandt und individuell, sie sind aber die Absichtserklärung einer Abkehr von der Verpflichtung des Staates auf die garantierte Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an der Gesellschaft. Geradezu ein Schritt bis hinter die UN-BRK ist die wiederholte Problematisierung von Kindern mit gesonderten Bedarfen, um die Existenz von gesonderten Einrichtungen zu begründen. Oder wie es der Anzuhörende Dr. Martin Theben (Rechtsanwalt) zu einem späteren Zeitpunkt zusammenfasste:
„Hören Sie auf, uns zu diagnostizieren und zu kategorisieren!“
Die Darstellung „Das erfordert ein deutlich erweitertes Angebot an spezialisierten Förderzentren inklusive eines adäquaten Raum- und Funktionsprogramms, das den realen Bedarfen der Schülerinnen und Schüler gerecht wird.“ ist insofern eine Abkehr von der UN-BRK, als dass sie suggeriert, in der Koalition würde man über die „realen“ Bedarfe debattieren. Was sind dann die in der UN-BRK festgehaltenen Bedarfe und Rechte, von denen man sich hier implizit abgrenzt?
Die UN-Behindertenrechtskonvention, die die Bundesrepublik vor nunmehr 16 Jahren ratifiziert hat, garantiert Kindern Teilhabe und den Schutz vor Ausgrenzung. Dies tut sie nicht unter dem Vorbehalt eines Elternwahlrechts und auch nicht unter dem Vorbehalt, dass Parlament und Senat keine andere Lösung für eine passgenaue Betreuung und Beschulung von Kindern einfällt, als diese gesellschaftlich auszugrenzen. Sie stellt den Staat in die Verantwortung, die Voraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe zu schaffen.
Die Entscheidung, wo Kinder beschult werden, entscheidet über die Lebensrealität, das Umfeld und den Lebensalltag von Kindern. Die Zuordnung zur Schule entscheidet somit maßgeblich für die Frage, ob die Rechte eines Kindes gewahrt sind.
Insofern geht es bei der Frage von Inklusion auch um mehr, als die Frage der Beschulung. Wenn Debatten über Inklusion immer wieder (und das passiert systematisch) vor Allem auf Fragen der „Beschulbarkeit“ im Regelsystem konzentriert werden, lenkt dies vom eigentlichen Thema ab: davon, dass Kinder und Jugendliche mehr sind, als Menschen mit Schulpflicht. Diese Art der Debattenführung führt letztlich zu einer Debatte um den Status Quo und damit zu seiner Verfestigung.
Das Recht auf Teilhabe ist ein Recht von Kindern und Jugendlichen und kein Recht, dessen Einhaltung eine Bildungsverwaltung und Eltern unter sich aushandeln können. Es käme auch (hoffentlich) niemand auf die Idee, beispielsweise das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung, oder andere Rechte von Kindern unter den Vorbehalt eines Elternwahlrechts stellen zu wollen.
Es gibt auch entgegen der Darstellung der bildungspolitischen Sprecherin nicht „Die Eltern“ (welche das „breit gefächerte Angebot schätzen“). Eltern sind keine interessenhomogene Gruppierung. Auch der Landeselternausschuss hat keinen Beschluss, dessen Inhalt die Koalition für eine solche Argumentation ins Feld führen könnte. Der Versuch, „die Eltern“ für die eigene Argumentation zu vereinnahmen hat aber widerum eine lange Tradition unter politischen Befürworter:innen der Förder- und Sonderschulen.
Die Aussage „inklusiver Unterricht und Unterricht an Förderzentren sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich.“ ist schlichtweg eine Verdrehung. Sie sind Gegensätze. Und sie „ergänzen“ sich auch nicht, sondern schließen sich gegenseitig aus. Entweder ein Kind ist an einer inklusiv arbeitenden Schule, oder ein Kind ist an einem Förderzentrum. Sinn ergäbe der Satz allenfalls, wenn man erklären möchte, dass die Beschulung an Förderzentren Inklusion sei, wie es der Bezirksbürgermeister von Spandau, Frank Bewig (CDU), es jüngst im Zusammenhang mit der Erweiterung eines Förderzentrums getan hat), aber das wäre eine geradezu orwellsche Verdrehung des Begriffs der Inklusion.

Das Recht auf Teilhabe ist kein „ideologischer Grabenkampf“, sondern geltendes (auch vom Regierenden Bürgermeister in seiner Zeit als Abgeordneter mit beschlossenes) Recht, für dessen Nichteinhaltung die Bundesrepublik erst 2024 wieder von den Vereinten Nationen gerügt wurde.
Dass viele Eltern ihre Kinder an ein Förderzentrum geben (müssen), weil sie keine Regelschule finden, die sich für ihr Kind verantwortlich fühlen möchte oder kann, oder weil sie die Regelschulen für unzureichend ausgestattet halten (was allzu häufig auch so ist), blieb unerwähnt.
Dass die bildungspolitische Sprecherin diese Abkehr von Kinderrechten vom Stuhl der Ausschussvorsitzenden aus unterstrich, von dem aus eigentlich der gesamte Ausschuss repräsentiert werden soll, blieb angesichts des Erklärten fast nur noch eine Randnotiz, passte aber ins Gesamtbild der Sitzung.
Senatorin Günther-Wünsch (CDU) stellte dar, dass sie sich über die Anhörung und das Thema freue und dass sie hoffe, dass „Klarheit entlang von Fakten und Rahmenbedingungen und Daten“ geschaffen werden könne. Alle an der Debatte Beteiligten müssen sich an diesen messen lassen. Dieser an die Abgeordneten und Anzuhörenden vorausgeschickte Hinweis der Senatorin, dass ihre „Fakten und Daten“ diejenigen Parameter sind, an denen sich Parlament und Öffentlichkeit messen lassen müssten, passte ebenfalls ins Gesamtbild der Sitzung.
Ihre Verwaltung fördere die Inklusion durch gesamtstädtische Steuerung der Eingliederungshilfen in den Jugendämtern, um die Gewährung der Eingliederungshilfen sicherstellen zu können.
Die Umsetzung des SGB IX im Bereich der Jugendhilfe sei ein Teil der Arbeit ihrer Verwaltung und auch in dem Zusammenhang werde die Zusammenarbeit der Schnittstellen gefördert. Es werde ab dem Juli 2025 eine dauerhafte Steuerungsrunde zur Kooperation von Schule und Jugendhilfe geben, auch, um die bezirklichen Stellen mehr zu koordinieren. Die AV USE sei im Beteiligungsverfahren. Selbiges sei „hoffentlich“ bis zum Sommer abgeschlossen. Parallel hierzu wird die AV Inklusionsassistenz erstellt, die regeln soll, welche Leistungen schulische Inklusionsassistentinnen und -Assistenten erbringen sollen. Für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen solle es neue stationäre und ambulante Angebote geben. Dies sei im Doppelhaushalt abgebildet, jedoch sei die Herausforderung, geeignete Träger zu finden.
Das Thema Inklusion müsse sich„an der Realität messen lassen“ können. Die Senatorin benannte in dem Zusammenhang den Mangel an Räumen und Fachkräften. Insbesondere Fachkräfte seien aufgrund der Arbeitsmarktlage aktuell kaum zu finden. Die Berliner Universitäten haben das Sonderpädagogikstudium in den letzten Jahren nicht mehr angeboten, wodurch ein wesentlicher Teil der Berliner Sonderpädagog:innen mittlerweile in Potsdam ausgebildet werden.
Beim Bestandspersonal gäbe es Weiterbildungsbedarf. Hierfür sollen Angebote geschaffen werden. Die Senatorin kritisiert den Vorwurf zur Abfrage, 2.800 Kinder würden derzeit nicht oder nur teilweise beschult. Der aktuelle Senat sei der Erste, der diese Zahl erhebt. Sie verwahrt sich gegen Vorwürfe, es gäbe eine Dunkelziffer. Diese Zahl sei nichts, wofür man sich „auf die Schulter klatscht“, es sei aber ein „sich ehrlich machen“ und ein „Betrachten der Realitäten und der Tatsachen„. Dem müsse begegnet werden.
Es wäre angesichts des Personal- und Raummangels eine Überlegung, „vorübergehend und zunächst Kleinklassen eventuell auch zu schaffen“, um den betreffenden Kindern zu ermöglichen, schulische Angebote zu erhalten. Es gehe darum, die knappen vorhandenen Ressourcen zu bündeln.
Dies sei nicht erstrebenswert und solle auch nicht auf Dauer angeboten werden. Bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ und im Bereich der Autismussprektrumsstörungen würden die Fallzahlen „exponentiell“ ansteigen, während die Zahl der Fachkräfte sinken würde. Ihre Aufgabe sei es, dem adäquat zu begegnen und alle an der Debatte Beteiligten müssen sich mit diesen Zahlen auseinandersetzen.
Auch der Beitrag der Senatorin ist geradezu symptomatisch für die Debatte um die schulische Inklusion. Dass es einen Ressourcenmangel gibt, ist nicht abzustreiten. Es ist bleibt jedoch ein erheblicher Unterschied, ob die Zielrichtung ausgegeben wird, alle materiellen, rechtlichen und personellen Ressourcen zu organisieren, die notwendig sind, um die Rechte von Kindern zu wahren und die Selbstverpflichtung der UN-BRK umzusetzen, oder ob man erklärt, dass man Parallelstrukturen schaffe bis zu einem Tag, der aktuell nicht benannt werden könne.
Letzteres passiert und es ist die faktische Festschreibung des Status Quo. Auch dies ist ein Muster, das in der allgemeinen Debatte rund um die Inklusion immer wieder auftaucht. Die bisher geschilderten Argumentationsmuster können mit Blick auf das dadurch entstehende Ergebnis insofern nur noch mit sehr viel Mühe als sprachliche Ungenauigkeiten verstanden werden. Der zuständige Ausschuss der vereinten Nationen kritisierte in seinem Staatenbericht von 2023 eine „substanzielle Fehlinterpretation“ der UN-BRK durch die Bundesrepublik aufgrund von „Ungenauigkeiten in der amtlichen Übersetzung.“
Es gibt viele Möglichkeiten, „Ihr deutet das Regelwerk um“ zu erklären.
„Der Ausschuss ist besorgt über
a) das Fehlen einer umfassenden nationalen Strategie für bewusstseinsbildende Maßnahmen und Kampagnen zur Förderung der Achtung der Rechte und der Würde von Menschen mit Behinderungen und zur Förderung eines nachhaltigen und systemischen Einstellungswandels;
b) die Ungenauigkeiten in der amtlichen deutschen Übersetzung des Übereinkommens, die substanzielle Fehlinterpretationen befördern.„Prüfausschuss der Vereinten Nationen zum Stand der Inklusion in Deutschland
Erneut zeigte sich, dass Inklusion politisch in der Regel als etwas gedacht wird, das „obendrauf“ kommt und nicht als etwas, das die Basis aller weiteren Überlegungen und Strukturen sein muss. Letzteres würde jedoch voraussetzen, dass sämtliche Teile und Schulformen des Bildungswesens auf den Prüfstand und unter die Maßgabe von Inklusivität gestellt werden.
Was sich jedoch tatsächlich zeigt, ist die Schaffung von Parallel- und Exklusivstrukturen. So, wie als Antwort auf die Bildungsexpansion der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts Gesamtschulen geschaffen wurden, um Schüler:innen der Sekundarstufe I den Weg zum Abitur zu ermöglichen, ohne die Gymnasien in ihrer Struktur und gesellschaftlichen Zusammensetzung anzufassen, werden nun unter dem Label der Inklusion Parallelstrukturen geschaffen, um Regelschulen so wenig wie möglich anfassen zu müssen.
Bezeichnenderweise sind es insbesondere die Gymnasien, die in dem Zusammenhang erneut nur in homöopatischen Dosen „angefasst“ werden. Die Inklusion im Bereich der weiterführenden Schulen bleibt überwiegend Aufgabe der Integrierten Sekundarschulen (ISSen) und der Gemeinschaftsschulen, während Inklusion an Gymnasien insbesondere mit der letzten Schulgesetznovelle und der Neuregelung der Übergänge in noch weitere Ferne gerückt ist.
Fragen rund um Inklusion werden nach wie vor politisch geführt, obwohl sie politisch eigentlich beantwortet und in geltendes Recht gegossen wurden. Auch die Berliner Senatskoalition erlaubt sich, diese Debatte weiterhin politisch zu diskutieren und die Inhalte der UN-BRK damit faktisch infrage zu stellen, obgleich sie gesetzliche Verpflichtung sind.
Inklusion und Schulpolitik insgesamt ist und bleibt keine Frage von Argumenten, sondern eine Frage von gesellschaftlichen und politischen Machtverteilungen.
Anhörung
Christine Braunert-Rümenapf, die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung gab einen Überblick über die inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen in Berlin. Sie verwies auf ihren gesetzlichen Auftrag, der sich insbesondere auf Artikel 11 der Verfassung des Landes Berlin stützt.
Menschen mit Behinderungen dürfen nicht benachteiligt werden. Das Land ist verpflichtet, für die gleichwertigen Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung zu sorgen.
Artikel 11 der Verfassung von Berlin
Maßgeblich für ihre Arbeit sei weiterhin der Artikel 24 der UN-BRK. Im „Verstößebericht“ zum Artikel 24 habe sie sich bereits 2023 mit der „mangelnden politischen Steuerung bei der Umsetzung von Artikel 24 der UN-BRK“ im Land Berlin auseinandergesetzt. Sie empfahl, die Auflösung von geschaffenen „Doppelstrukturen“, um die frei werdenden Ressourcen in die Inklusion zu stecken.
Ihre Einschätzung von 2023 beschrieb sie als gemischte Einschätzung, die vor Allem „eine konsequente politische Steuerung vermisste“, „mittlerweile“ würde sie jedoch eindeutig von „einem Rückschritt bei der Umsetzung der UN-BRK unter dem aktuellen Senat“ sprechen. Ihre vorgetragenen Kritikpunkte unter Anderem:
- Eine Schaffung nicht nur vorübergehender sonderpädagogischer Kleinklassen an allgemeinbildenden Schulen.
- Die neue Sonderpädagogikverordnung verschlechtere die Rahmenbedingungen für die inklusive Bildung.
- Die Beschränkung des Haus- und Krankenunterrichts auf die Primatstufe und die Sekundarstufe I.
- Eine Verschlechterung bei Nachteilsausgleichen durch die jüngste Schulgesetznovelle.
- Die Veränderung bei der Zuteilung sonderpädagogischer Ressourcen im Rahmen der Zumessungsrichtlinien.
Im April 2025 hätte es eine Aussprache hierzu mit der Hausleitung gegeben, der Dissens wäre jedoch bestehen geblieben. Insbesondere kritisierte sie den vorgesehenen Neubau von Förderzentren mit dem Schwerpunkt „Geistige Entwicklung“.
Sie führte aus:
„Ein solcher Neubau widerspricht meines Erachtens bereits im Grundsatz der UN-BRK, dem Verfassungsgrundsatz der Herstellung gleicher Lebensbedingungen und dem Landesgleichberechtigungsgesetz, weil inklusive Bildung und gemeinsames Lernen verhindert werden und es sich um eine exkludierende Schulform handelt.“
Die von ihr aufgestellte Forderung, neue Förderzentren sollten mit einem festen Datum versehen werden, bis zu dem sie in inklusive Schwerpunktschulen umgewandelt werden, wurde nach ihrer Aussage nicht berücksichtigt.
Zum Argument des Elternwahlrechts führte sie aus, dass dieses nur dann bestünde, wenn zwischen gleichwertigen Bedingungen gewählt werden könne. Dies sei jedoch nicht der Fall, da allgemeinbildende Schulen allzu häufig trotz der Vorgabe, inklusiv zu arbeiten, dies nicht täten und auch, weil ihnen häufig hierfür nicht die Ressourcen zur Verfügung stünden. Aufgrund des im Schulgesetz festgeschriebenen Ressourcenvorbehalts gäbe es faktisch kein Wahlrecht.
Eltern, die beim Teilhabefachdienst Leistungen nach dem SGB IX beantragen, träfen häufig auf bürokratische Verfahren, unklare Zuständigkeiten, Schnittstellenprobleme und eine uneinheitliche Definition von Begrifflichkeiten zwischen Schule und Sozialrecht. Sie wies explizit darauf hin, dass Artikel 24 UN-BRK in allen Lebensphasen gelte und somit auch die berufliche Bildung und die frühkindliche Bildung umfasse. Im Bereich der frühkindlichen Bildung seien hierzu zuletzt Fortschritte zu erkennen gewesen.
Thomas Schenk, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) im Deutschen Beamtenbund führte aus, dass eine Mehrheit der Berliner Lehrkräfte eine inklusive Bildung wolle, gleichzeitig wären viele Lehrkräfte nicht mehr bereit, unter den aktuellen Gegebenheiten der Inklusion zu arbeiten. Seine Gewerkschaft wolle Vorschläge unterbreiten. Hier unter Anderem:
- Die Umsetzung der Inklusion sei so bedeutend für die Stadt, dass diese unter die Ägide des Abgeordnetenhauses gehöre. Das Abgeordnetenhaus solle einen zehnjährigen Schulfrieden im Bezug auf die Inklusion beschließen und den Prozess legislaturpersiodenübergreifend und unabhängig von Koalitionen und Haushaltslagen vorantreiben.
- Die Konzepterarbeitung hierzu solle in der Bildungsverwaltung erfolgen.
- Inklusion sei eine gesamtschulische Aufgabe und nicht nur Aufgabe der Sonderpädagogik.
- Die Strategie solle dem Abgeordnetenhaus insbesondere Klarheit darüber bringen, welche baulichen Anstrengungen unternommen werden müssten, welche Kosten hierdurch anfallen würden und wie die Reihenfolge der Umbaumaßnahmen aussähe.
- Es müsse klar geregelt werden, was künftig die Aufgabe der Förderzentren sein soll. Die Schulämter würden sich diese Transparenz bereits seit langem wünschen.
- Der zusätzliche Personalbedarf für eine inklusive Schule solle entlang wissenschaftlich basierter Standards ermittelt und dem Abgeordnetenhaus zur Kenntnis gegeben werden.
- „Die gegenwärtige Inklusion zum Nulltarif“ sei gescheitert und mit dem VBE würde es auch „keine Fortsetzung geben“.
- Der Fachkräftemangel könne sich lindern lassen, wenn Berlin eine funktionierende inklusive Schule anböte, da viele Lehrkräfte eine solche wollten und Berlin als Stadt attraktiv sei.
- „Den gegenwärtig in der Diskussion eng auf sonderpädagogische Förderbedarfe fixierten Inklusionsbegriff“ trage der VBE Berlin nicht weiter mit. Die Stadt habe ein „veritables Problem mit Armut, mit Migration und mit Gewalt an Schulen.“ Diese Punkte müssten in einer Strategie Berücksichtigung finden.
- Förderbedarfe sollen ausschließlich durch die SIBUZe festgestellt werden dürfen. Die Diagnostikverfahren müssten überarbeitet werden. Die Diagnostik müsse durch die SIBUZe und Vertreter:innen der Wissenschaft gemeinsam weiterentwickelt werden. Die SIBUZe müssten temporär aufgrund der gestiegenen Fallzahlen verstärkt werden.
- Lehrkräfte müssten besser ausgebildet und weiterqualifiziert werden.
- Schulersatzprojekte für Schülerinnen und Schüler mit herausforderndem Verhalten sollen beendet werden. Stattdessen sollen Lösungen entwickelt werden, die die Kinder nicht aus der Schulgemeinschaft herauslösen.
Der VBE konstatiert, dass die „Renaissance der Förderzentren“ darauf zurückgehe, dass die Inklusion an den Regelschulen nicht hinreichend gewährleistet wird und Eltern stattdessen ausweichen würden. Lehrkäfte würden feststellen, dass sie Kinder unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht angemessen fördern können. Schulleitungen wüssten, dass sie den Kindern nicht gerecht werden können.
Förderzentren könnten „temporär sicher hilfreich sein“, für diese müsste aber ein dauerhafter Zweck gefunden werden. Beispielsweise könnten sich diese für den Regelbetrieb öffnen oder eine Funktion als „Kompetenzzentrum“ erhalten.
Die Ausführungen von Dr. Martin Theben, Rechtsanwalt, im Namen Betroffener im Wortlaut:
„Wir wollen heute einige etwas allgemeinere Ausführungen zur gemeinsamen Erziehung machen, beziehungsweise zu der Problematik, dass sie nicht stattfindet. In der Frage der gemeinsamen Erziehung wird das deutlich. Alle Initiativen gingen davon aus, dass für bestimmte behinderte Schülerinnen und Schüler nur die Sonderschule in Frage kommt. Dabei bediente man sich dem Benennungsmonopol der Sonderpädagogik und der Kategorisierung wie „lernen“, „geistig“ oder „schwer mehrfach behindert“.
Das sind Begriffe, mit denen hier tagtäglich operiert wird, die aber überhaupt nicht mehr hinterfragt werden. Ein monokausaler Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt in einer Sonderschule und einer günstigen Entwicklung der entsprechenden Schülerinnen und Schüler, konnte empirisch bisher nie eindeutig belegt werden.
Und auch gibt es in der Sonderschule nichts, was nicht auch in der allgemeinen Schule geben könnte. Freilich bedarf es dazu organisatorischer, pädagogischer und curricularer Reformen.
Die sind aber ohnehin notwendig und nicht von der Anwesenheit oder Abwesenheit behinderter Menschen abhängig. Wer behinderte Menschen zum Symptomträger, eines reformunwilligen oder unfähigen Bildungssystem macht und sie dazu degradiert, der handelt zumindestens grob fahrlässig. Wortprotokoll des Ausschusses für Schulwesen vom 28. April 1994.
Die Zeitlosigkeit dieser Ausführungen, meine Damen und Herren, besticht. Der diese Worte gesagt hat, der sitzt heute vor ihnen. Er war damals gerade mit seinem Sozialpädagogikstudium fertig, stand kurz vor seinem Jurastudium, hat zehn Jahre Sonderschule hinter sich gehabt und hat dann damals noch unter illegalen Bedingungen an einer Berliner allgemeinen Schule das Abitur gemacht.
Und zwar deshalb, weil er unter anderem, eine sehr mutige Mutter hatte, die er leider in einer Woche zu Grabe tragen muss und ohne die ich hier heute nicht sitzen würde. Wie ist der Stand heute? Wir haben es schon gehört und ich kann vieles von dem, was ich bisher gehört habe, das unterscheidet übrigens die Situation von damals, da waren wir eher die Outlaws, unterstreichen.
Und ich frage mich natürlich schon, oder finde es immer wieder interessant, dass überwiegend Menschen ohne Behinderung, jedenfalls soweit sie erkennbar wären, Menschen mit Behinderungen erklären wollen, wie Inklusion geht und wo die Grenzen liegen. Ich glaube, das bestimmen immer noch wir selbst, denn ohne uns gäbe es weder die Entwicklung noch den Begriff, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Und was haben wir? Anstatt den freien, den sozialen Behinderungsbegriff zu verwenden, der unterscheidet, oder der vorsieht, die Wechselwirkung zwischen Einschränkung und Einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, wie er sich also im SGB II befindet, oder der offene Begriff im Landesgleichberechtigungsgesetz?
Im AGG, in all den Gesetzen, die es im Übrigen im Gegensatz zu damals ja mittlerweile gibt, haben wir uns entschieden, weiterhin für eine Kategorisierung nach sonderpädagogischen Förderbedarfen, die immer weiter ausgefranst wird, durch diagnostische Verfahren.
Wir sind behindert, wir sind nicht krank und wir sind auch keine Versuchsobjekte, wir sind Menschen, die ein Menschenrecht für sich in Anspruch nehmen.
Wir und die Angehörigen derjenigen, die noch nicht für sich selber sprechen können. Und stattdessen unterscheidet man, also kategorisiert, dabei hat doch jedes Kind einen Förderbedarf.
Wenn Sie also immer alle betonen, wir wollen doch jedes Kind individuell fördern, ja dann machen Sie es doch bitte und kategorisieren Sie nicht. nehmen Sie doch die Menschen nach ihrer Befähigung und nicht nach ihrer Einstufung durch ein SIBUZ, was aus meiner Sicht im Übrigen auch nicht bisher nicht nach dem Peer Prinzip arbeitet.
Mir ist also nicht bekannt, dass dort Menschen, die selber eine Lernbehinderung oder Autismus, eine Lernbeeinträchtigung, oder eine körperliche Beeinträchtigung haben, an den Diagnostikverfahren beteiligt sind, dass überhaupt auch außenstehende Menschen mit Behinderung an den Diagnostikverfahren beteiligt sind.
Da lasse ich mich gerne eines Besseren belehren. Aber überhaupt halte ich die Beteiligung von Menschen mit Behinderung oder von Eltern, von Kindern mit Menschen mit Behinderung, Und zwar eine viel effektivere Beteiligung an all diesen Prozessen für evident, weil die UN-Behindertenrechtskonvention nämlich auch sagt (und mittlerweile auch vieler Landesgesetze), in alle Maßnahmen, die Menschen mit Behinderungen betreffen, sind diese einzubeziehen und zwar ganz aktiv und effektiv.
Zu guter Letzt, das kann ich mir nicht ersparen: nachher wird ja unter anderem auch ein Entwurf ihrer Fraktion, der AfD, diskutiert, der vermutlich ein sehr kurzes parlamentarisches Leben haben wird. Ich bin für den Entwurf sehr dankbar, weil er nach seiner Bezeichnung zumindestens ehrlich ist. Da weiß man, woran man ist. Ich persönlich betrachte ihn als Kampfansage, aber er ist im Grunde genommen eigentlich nur die Konsequenz einer Entwicklung, die ich eben gerade versucht habe aufzuzeichnen.
Und ich kann sie wirklich nur, ja fast anflehen, das hab ich übrigens, neulich in einem anderen Ausschuss auch schon machen müssen, anflehen. Uns alle, die Eltern, die hier im Hintergrund sitzen, Leute wie mich, ich bin Anwalt, auch bei mir stehen verzweifelte Eltern Schlange, die durch die Institutionen zerrieben werden, denen vorgeworfen wird, „macht euer Kind bitte normgerecht“, eine Norm, die es gar nicht gibt, dann können wir sie auch wieder beschulen, ansonsten lasst sie zu Hause.
Und andererseits ihnen vorgeworfen wird, wenn sie sich für Inklusion entscheiden, sie würden eine Kindeswohlgefährdung begehen. Nein, wir haben es hier mit einer institutionellen Kindeswohlgefährdung zu tun. Alle wollen sicher nicht nur das Beste.„
Die Ausschussvorsitzende, Sandra Khalatbari (CDU) unterbricht den Vortrag und fordert die zuschauenden Eltern in den Besucherreihen auf, ihr spontan aufgekommenes Klatschen zu unterlassen. Das ist zwar geschäftsordnungmäßig korrekt, wirkt aber angesichts des Inhalts des Vortrags und angesichts der Betroffenheit der anwesenden Eltern zumindest in der vorgetragenen Zurechtweisung wenig empathisch.
Das Abgeordnetenhaus der 19. Legislatur ist Nachfolger der Abgeordnetenhäuser früherer Wahlperioden, die für die von Dr. Theben skizzierte und ausgrenzende Gesetzgebung verantwortlich waren. Es gäbe insofern angesichts des geschilderten Lebenslaufs auch vieles, was man in diesem Parlament entgegnen könnte, angefangen bei Respektbekundungen, vielleicht sogar hin zu aufrichtigem Bedauern und im Zweifel auch nur Zuhören und ausreden lassen. So hoch ist das hohe Haus an diesem Tag aber nicht. Redezeitbegrenzung schlägt Inhalt. Die Ausschussvorsitzende fordert ihn auf, „dann auch langsam zum Ende“ zu kommen.
Er fährt fort: „Vielleicht nur zu guter Letzt, diese Ausschusssitzung von damals, die endete etwas turbulent, weil nämlich während der Sitzung eine Fraktion, sag jetzt mal nicht welche, ein Flugblatt verteilen ließ, in dem drinstand, „ein geistig behindertes Kind gehört nicht ins Gymnasium“. Ich, damals noch ganz Sturm und Drang, habe dann ausgerufen, >>was ist das hier für ein undemokratischer Haufen<<.
Von solchen Äußerungen bin ich weit entfernt. Ich halte das hier heute auch nicht für einen undemokratischen Haufen und gerade darum flehe ich Sie wirklich an, uns alle effektiver und partizipativer zu beteiligen und hören Sie auf, uns zu diagnostizieren und zu kategorisieren. Ich danke Ihnen.
„Vielen Dank. Wir machen weiter mit Herrn Prof. Dr. Wrase.“, so die Reaktion der Ausschussvorsitzenden.
Prof. Dr. Michael Wrase (Leiter der Forschungsgruppe „Recht und Steuerung im Kontext sozialer Ungleichheiten“ am Wissenschaftszentrum Berlin) stellt dar, dass die von der UN-BRK geforderte Gewährleistung eines „hochwertigen, inklusiven Bildungssystems“ sichergestellt werden müsse. Berlin nähme im Ländervergleich eine mittlere Platzierung ein, derzeit seien aber rückläufige und negative Tendenzen zu beobachten.
Er stellt dar, dass das Berliner Bildungswesen „durch Fachkräftemangel, daraus resultierenden Unterrichtsausfall, einen Anstieg aufmerksamkeitsschwächerer Kinder und Kinder mit Förderbedarfen an den Regelschulen, zunehmende Diagnostik, zunehmende oder weitgehend weiterhin hohe Segregation und nicht zuletzt natürlich erhebliche ungelöste strukturelle und Steuerungsprobleme“ erheblich unter Druck stünde.
Er stellte fest, dass die Inklusion unter diesen Bedingungen nicht oder nur mangelhaft durch die Schulen umgesetzt werden könne. Allerdings könne dies „keine Entschuldigung für die Politik oder Administration sein.“ Er verwies auf das Bundesland Bremen, welches es geschafft habe, bis auf drei Förderschulen auf sämtliche weitere Förderschulen zu verzichten und diese in das Regelsystem zu überführen.
Er wurde deutlich in der Darstellung „Dass die Reaktion des Berliner Senats auf die bekannten Probleme im Berliner Schulsystem erkennbar so aussieht, die Inklusion zumindest partiell zurückzufahren und wieder verstärkt auf gesonderte Förderzentren zu setzen, was, wie ich ja schon gesagt habe, keine Neuentwicklung ist, die nicht erst unter der jetzigen Bildungssenatorin eingeleitet wurde, ist vor diesem Hintergrund nicht nur pädagogisch zu bedauern und völkerrechtlich problematisch, sondern auch strukturell der falsche Weg und das sage ich hier dezidiert aus einer wissenschaftlichen Perspektive.„
Er kritisierte, dass die Aufrechterhaltung der Doppelstruktur von Regelschulen und Förderzentren Kapazitäten binden würde, die sinnvoller eingesetzt wären, würde man sie in eine inklusive Bildung investieren.
Im Anschluss ging es in die Beratungen, die ich hier nicht in ihren Details aufgreifen werde. Die komplette Sitzung kann hier angesehen werden, ich werde mich auf in diesem Zusammenhang wesentliche Aspekte konzentrieren.
Marcel Hopp (SPD) dankte den Anzuhörenden für ihre „schonungslosen Berichte und Perspektiven“.
Er erklärte „Inklusion ist Menschenrecht, da sind wir uns alle einig als demokratische Fraktion. Aber natürlich ist die Umsetzung sozusagen aus systematischer Betrachtung in einem Mangelsystem natürlich auch ein herausfordernder, jahrzehntelanger Prozess. Ich glaube, da würde ich auch der Senatorin absolut recht geben.
Die Frage ist, wie wir die Zielstellung, in der wir uns einig sind, sozusagen abgleichen mit, welche realistischen Maßnahmen können wir hier, sollten wir hier schrittweise gehen. Deswegen ist das Bemängeln daran, dass das inklusive Schulsystem noch nicht so funktioniert, wie wir es uns gerne wünschen, glaube ich, erstmal eine Zustandsbeschreibung, aber auch eine Prozessbeschreibung.
Die Frage ist, schauen wir noch vorwärts oder gehen wir Rückschritte und insofern auch, Vor allem an Sie, Frau Braunert-Rümenapf, vielen Dank auch, das zu benennen, dass das eben aus Ihrer Sicht hier noch nicht mehr nach vorne geht. Ich glaube, das ist etwas, wer die letzten Monate auch der Medienberichterstattung sich angeschaut hat, was wir auch als Juniorpartner kritisch begleiten, bestimmte Entscheidungen. […]
Die Frage ist, wie kommen wir zur Zielstellung in einem Mangelsystem? Und ich glaube, ein ganz wichtiger Grundsatz, wo wir auch mahnend immer wieder als Juniorpartner uns sowohl intern als auch öffentlich positionieren und da hoffen wir auch, dass wir da weiterkommen in der Koalition, ist, dass in einem Mangelsystem, finanzielle und personelle Mittel und auch politische Schwerpunkte nach den Bedarfen sich orientieren müssen. Das ist, glaube ich, ganz, ganz entscheidend. Das sind auch Schwerpunkte, die uns in den letzten Jahren sehr wichtig waren und wo wir, glaube ich, aufpassen müssen, dass wir das nicht aus dem Blick verlieren.„
Eine Erklärung, die auch als partielle Absetzung von der Politik des Koalitionspartners CDU zu verstehen ist.
Marianne Burkert-Eulitz (Bündnis ’90/Die Grünen) stellte dar, dass von einem von ihr nicht näher benannten „sonst sehr geschätzten Hausjuristen (der Bildungsverwaltung, Anm.) klar gesagt worden“ sei, „dass die UN BRK den Landesgesetzgeber, den Schulgesetzgeber nicht bindet,“ und dass sie erfahren möchte, wie die Rechtsauffassung der Anzuhörenden dazu sei und wie auch die Haltung der Senatorin dazu aussähe.
Der Abgeordnete Bocian (CDU) erklärte „Gut, ich glaube, wir wollen ja alle oder fast alle, Inklusion noch erfolgreich umsetzen hier bei uns und wir wollen es in jeder Klasse tun und wir können das aber auch nicht um jeden Preis tun. Den Preis zahlen ja unsere regulären Lehrkräfte auch.“ Er berichtete von der Reise des Bildungsausschusses nach Finnland und Estland und davon, dass es dort, wie auch im angelsächsischen Raum sonderpädagogische Klassen in Regelschulen gäbe und wollte wissen, ob dies auch für Berlin ein gangbarer Weg wäre.
Die Abgeordnete Dr. Maja Lasic (SPD) stellte dar, dass ihre Fraktion es angesichts des Personalmangels für einen gangbaren Weg hält, Kleinklassen mit Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ in Regelschulen einzurichten, um die Zuweisung an Förderschulen zu vermeiden. Die Neuregelung der VV Zumessung verstehe sie nicht, da in dieser die Sonderpädagogikstunden „per Gießkanne“ auf die Schulen verteilt würden und sie den Senat bisher so verstanden hätte, dass man Gießkannenprinzipe ablehne.
Christine Braunert-Rümenapf, die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung stellte unter Anderem dar, dass eingerichtete Kleinklassen an Regelschulen im Blick bleiben müssten, da sie ansonsten das Risiko bergen, ein exkludierendes System zu werden. Dies dürfe nicht passieren. Die UN-BRK hält sie für bindend.
Thomas Schenk vom VBE stellte unter Anderem dar „Und ich kann für den VBE auch nur sagen, die, Gemeinschaftsschule in Berlin ist durchaus die Schulform der Zukunft für eine inklusive Schule.“ Die Frage hierzu wurde unter Anderem von Marcel Hopp (SPD) aufgeworfen.
Dr. Martin Theben, Rechtsanwalt griff die Frage nach der Verbindlichkeit der UN-BRK auf und stellte die Frage in den Raum, ob die betreffende Person, welche die Frage aufgeworfen hätte, wirklich Jurist sei. Die Gültigkeit stünde für ihn außerfrage. Zu einer Frage der Abgeordneten Brychcy, wie er mit Fragen von „verzweifelten Eltern“ umginge antwortete er
„[…] die verzweifelten Eltern, die sitzen ja jetzt zum Teil auch hinter mir. Warum sind die verzweifelt? Weil sie eben unisono das Gefühl vermittelt bekommen […] dass ihr Kind nicht funktioniert und wenn es nicht funktioniert, dann können wir es auch nicht beschulen. Und das ist die falsche Sichtweise. Natürlich gibt es eine Schulpflicht, aber die besteht beiderseitig.
Also auch die Schule, die Institution Schule hat eine Bringschuld und Inklusion ist kein „nice to have“, sondern ist „must to have“ und gehört auf die To-do-Liste der Schulen. Und es ist aber auch nicht irgendwas, was oben drauf kommt. […] Inklusion heißt einfach für jeden Schüler, für jede Schülerin und sicherlich auch für alle anderen, die dort arbeiten, ein Umfeld zu schaffen, das dort effektiv Bildung und Erziehung vermittelt wird. So einfach ist das. Und da bleibe ich dabei, da brauche ich keine Kategorisierung.“
Prof. Dr. Michael Wrase begrüßte den Impuls des VBE für einen zehnjährigen Schulfrieden und eine parteiübergreifende Erarbeitung eines Inklusionskonzepts. Zur Frage der Bindung der UN-BRK führte er aus, dass diese völkerrechtlich bindend sei, dass es unter Juristen jedoch eine Debatte darüber gäbe, ob die UN-BRK unmittelbar gelte, oder erst über die jeweils konkretisierenden Gesetze auf der Ebene der Mitgliedsstaaten. Er stellte die Möglichkeit in den Raum, dass der „Hausjurist“ sich hierauf bezogen haben könnte.
Sonderpädagogische Kleinklassen, wie in der Frage vom Abgeordneten Bocian (CDU) genannt, sieht er aus schulorganisatorischen Gründen spätestens in der Sekundarstufe 1 für problematisch an, gleichwohl er das Konzept im Grundsatz nicht ablehnt. Das Berliner Bildungswesen sei an dieser Stelle nicht mit angelsächsischen Bildungssystemen vergleichbar.
Ein weiteres Hindernis sei, dass das Deutsche Bildungswesen bereits jetzt sehr stark auf Segregation setze. Ein weiteres Segregationssystem hätte in diesem Kontext eine andere Wirkung, als eine etwaige Kleinklasse in Bildungssystemen wie den Skandinavischen, die im Grundsatz auf eine „Einheitsschule“ setzen würden.
Die Ausschussvorsitzende, Sandra Khalatbari (CDU), übergab das Wort an die Senatorin. Diese dankte den Anzuhörenden und kündigte an, einen Teil der an sie gerichteten Fragen an die anwesenden Mitarbeitenden ihrer Verwaltung weiterzugeben. Gleichzeitig aufkommende, aber im Stream nicht näher zu verstehende Zwischenrufe aus dem Zuschauerraum versuchte die Ausschussvorsitzende in scharfem Ton zu untersagen und der Senatorin erneut das Wort zu erteilen.
Die Senatorin wandte sich daraufhin an die Vorsitzende und forderte sie auf „Lass sie doch ausreden kurz“. Die Senatorin ergriff erneut das Wort und erklärte „Sie hat ja wahrscheinlich als betroffene Angehörige auch nicht ganz Unrecht, deswegen sitzen wir ja heute auch hier, um tatsächlich darüber zu sprechen, wie wir das zukünftig angehen.“
Dass ein Senatsmitglied, das im Ausschuss lediglich Gast ist, eine Parlamentsausschussvorsitzende, die in diesem Rahmen den Parlamentsausschuss als Ganzes repräsentiert, auffordert, die Regularien ihres Ausschusses zu ignorieren und selbige hinterher über die Motivation eines Zwischenrufs belehrt, ist eine Verdrehung des Verhältnisses von Parlament und Regierung zueinander und mindestens unkonventionell.
Es passt aber genauso ins Bild dieser Sitzung wie der Umstand, dass die Ausschussvorsitzende diese Einmischung der Senatorin in die Sitzungsleitung im Gegensatz zur Einmischung der Zuschauerin gänzlich unkommentiert ließ.
„Die Mitglieder des Senats unterstehen in den Sitzungen der Ordnungsgewalt des Präsidenten des Abgeordnetenhauses oder des Vorsitzenden des Ausschusses.“
Artikel 49 Abs. 5 der Verfassung des Landes Berlin.
Den Impuls der VBE und von Prof. Dr. Wrase nach einer langfristig ausgearbeiteten Strategie zur Inklusion begrüßte sie im Grundsatz, beantwortete weitere Detailfragen aus dem Plenum und übergab daraufhin an ihre Mitarbeitenden von der Fachebene und an Staatssekretär Dr. Kühne. Ich empfehle hierzu die Aufzeichnung der Sitzung.
Die Frage, ob die Bildungssenatorin die UN-Behindertenrechtskonvention als für ihren Geschäftsbereich gültig ansieht, blieb unbeantwortet.
Es wurde in diesen drei Stunden viel gesprochen. Zu Wort kamen aber nicht: Schülerinnen und Schüler als betroffene Gruppe. Und auch das ist symptomatisch für sämtliche Debatten über schulische Inklusion.