Allein 2023 verließ etwa jede:r zwölfte Jugendliche eines jeden Berliner Jahrgangs die Schule ohne Schulabschluss.

Wenn man nur diejenigen betrachtet, die die Schule nach Ende der Klasse 10 verlässt, ist es sogar jede:r Zehnte. Hinzu kommen die Jugendlichen, die zwar einen Abschluss, aber keine Anschlussperspektive, beispielsweise auf einen Ausbildungsplatz haben. Vieler dieser Jugendlichen verschwanden bisher nach der Schule „vom Radar“, weshalb eine gezielte nachschulische Förderung zur Erlangung eines Ausbildungsplatzes bisher kaum möglich war.

Der Senat hat hierzu ein sogenanntes „Elftes Pflichtschuljahr“ eingeführt. Die Jugendlichen sollen sich an Oberstufenzentren mit entsprechender Unterstützung und Begleitung eine Ausbildungsperspektive erarbeiten können. Der neue Bildungsgang soll einen hohen Anteil an betrieblichen Praktika enthalten.

Diese in diesem Kontext als „Ankerschulen“ bezeichneten Oberstufenzentren arbeiten mit den Sekundarschulen, Gemeinschaftsschulen und Gymnasien zusammen und nehmen die Jugendlichen von dort auf.

Gleichzeitig hat das Land Berlin mit anderen Bundesländern gleichgezogen, den Datenabgleich zwischen den Berliner Schulen und den Jugendberufsagenturen der Bundesagentur für Arbeit geregelt und diesen damit ermöglicht. Die Schülerinnen und Schüler sollen hierdurch nahtlos begleitet werden können.

Als die Bildungspolitische Sprecherin der CDU im Plenum des Abgeordnetenhauses erklärte „Wir stellen erstmals die gesamte Laufbahn eines Kindes vom Kindergarten bis zum Übergang in den Arbeitsmarkt in den Fokus“ (Plenarprotokoll) war das eine kühne Selbstzuschreibung ihrer Fraktion und Koalition, waren die „Bildungskette“ und Überlegungen zu den mit ihr verbundenen Übergängen zwischen den Bildungseinrichtungen keine Erfindung der jetzigen Koalition, das macht das Anliegen aber nicht weniger wichtig.

Die Notwendigkeit, Schnittstellen, Übergänge und Formate nachzusteuern, hat man aufgegriffen und in Gesprächen mit Kammern, Verbänden, Jugendberufsagenturen und anderen Akteuren dieses Format entwickelt.

Aus Teilen der Opposition (Bündnis´90/Grüne und DIE LINKE), aber auch von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft kam unter Anderem die Kritik, dass ein elftes Pflichtschuljahr Jugendliche kaum erreichen dürfte, die bereits in den 10 Jahren davor im System Schule gescheitert sind.

Aus einem Teil der Oberstufenzentren wurde während des Gesetzgebungsverfahrens angemerkt, dass die auf jeweilige Branchen spezialisierten Oberstufenzentren aufgrund ihrer jeweiligen Spezialisierung nicht in der Lage seien, in sämtliche Berufe zu orientieren und dass sie nach der Neuregelung auch in branchenfremde Berufspraktika vermitteln müssten, wofür diese nicht ausgelegt sind.

Die Senatsverwaltung hat ihrerseits darauf reagiert und jüngst mit der Industrie- und Handelskammer eine Kooperationsvereinbarung geschlossen, die den Einsatz von Kooperationsmanagern in den Oberstufenzentren vorsieht. Diese werden von der IHK finanziert und sollen Netzwerke mit Ausbildungsbetrieben etablieren (vgl. Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie).

Es bleibt die Aufgabe, auch das Lehrpersonal für seinen Teil dieser branchenübergreifenden Aufgabe „auszurüsten“.

In der Sitzung des Bildungsausschusses vom 20.02.2025 wurde von den angehörten Fachverbänden angemerkt, dass die Einführung für die Schulen und Schulleitungen zu kurzfristig käme, um diese administrativ gut umsetzen zu können. Dies führt unter Anderem dazu, dass den Oberstufenzentren nicht bekannt sei, mit welchen Problemlagen Schülerinnen und Schüler ins elfte Pflichtschuljahr starten und dass die Schulen sich deshalb nicht auf diese vorbereiten können. Ebenso wurde kritisiert, dass die Jugendhilfe nicht ausreichend in dem neuen Format repräsentiert sei, da viele Jugendliche mit Problemen kämen, die durch Unterricht und Praktika allein nicht gelöst werden können.

Kritisiert wurde ebenso der späte Zeitpunkt der Zuweisung der Jugendlichen im zweiten Halbjahr der Klasse 10, da bei schuldistanten Jugendlichen im „Langzeittrend“ erkennbar sei, dass diese im zweiten Halbjahr der Klasse 10 verstärkt fehlen und damit für Vermittlungsbemühungen häufig schwer erreichbar seien. Die Zuweisung und ihre Vorbereitung müssten deshalb früher starten.

Es sei zudem nicht erkennbar, auf welcher Evaluation bisheriger Verfahren dieses neue Instrument zur Berufsorientierung fußt. Warum frühere Instrumente der Berufsorientierung nicht ausreichend funktioniert haben, sei nicht hinreichend bekannt (Vgl. Wortprotokoll der Sitzung vom 20.02.2025).

Überarbeitung der Berufsorientierung in der Sekundarstufe I

Bei ihrem jüngsten Vortrag im Rahmen des Wirtschaftspolitischen Frühstücks der Industrie- und Handelskammer erklärte die Bildungssenatorin im Januar 2025, dass sie die Berufsorientierung als hauptsächliche Aufgabe der Sekundarstufe 1, also der Klassen 7 bis 10 ansieht, dass diese also deutlich vor dem 11. Pflichtschuljahr gestärkt werden müsse.

Das bisherige „Landeskonzept für Berufs- und Studienorientierung“ der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie befände sich derzeit in einem Überarbeitungsprozess und die Koalition wolle verpflichtende Betriebspraktika für die Berliner Schülerinnen und Schüler in den Jahrgängen 8 und 9 einführen.

Dies soll in der verbleibenden Legislaturperiode geschehen und ist auch dringend notwendig, sofern „IBA Plus“ (so heißt der Bildungsgang zum 11. Pflichtschuljahr) kein generelles Auffangbecken für die Versäumnisse der Sekundarstufe 1 werden und schulische Aufgaben in den Bereich der beruflichen Bildung delegieren soll.

Eine Stärkung der Berufs- und Studienorientierung in den Jahrgängen 7-10 bleibt schon deshalb dringend notwendig, als dass ein zweistelliger Prozentsatz der Auszubildenden eines jeden Ausbildungsjahrgangs seine Ausbildung binnen des ersten Ausbildungsjahres abbricht (vgl. Podcastgespräch mit Marian Schreier von der IHK Berlin).

Viele der abbrechenden Auszubildenden begründen dies mit falschen Erwartungen an den Ausbildungsberuf infolge fehlender beruflicher Orientierung. Das Problem mangelder beruflicher Orientierung trifft insofern bei Weitem nicht nur die Zielgruppe, die das elfte Pflichtschuljahr erreichen soll, sondern alle Schülerinnen und Schüler.

Eine gelingende Überleitung von Jugendlichen in Ausbildungen bleibt auch deshalb dringend notwendig, da fehlende Berufsabschlüsse zu denjenigen Faktoren gehören, die überdurchschnittlich häufig zu Langzeitarbeitslosigkeit und prekären Beschäftigungen führen.

Dass die ergriffenen Maßnahmen in Art und Umfang ausreichend, für die Zielgruppe geeignet sind und dass die Einführung nicht zu kurzfristig für die Schulen kommt, wird der Senat zeigen müssen. Das „Elfte Pflichtschuljahr“ geht zum kommenden Schuljahr an den Start.

Link: Informationen und Materialien der SenBJF zum Elften Pflichtschuljahr / zum Bildungsgang „IBA Praxis“

Beitragsbild: Marco Fechner/ChatGPT