Teil 2 zur Schwarz-Roten Koalitionshalbzeit in Berlin.

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Über ein Bildungssystem zu schreiben, in dem Bildungschancen so ungleich verteilt und familienabhängig sind, wie im Deutschen, ist nicht möglich, ohne sich vorher mit den unterschiedlichen Startbedingungen der Kinder und Jugendlichen auseinanderzusetzen. An dieser Stelle soll es um den „Faktor Kinderarmut“ gehen und die Frage, wie der Berliner Senat mit dem Thema umgeht.

Ein paar „harte Fakten“, die die Basis zu diesem Beitrag sind, als Einstieg:

  • Die Bildungschancen eines Kindes hängen in Deutschland in einem erheblichen Maße von den sozioökonomischen Bedingungen seines Elternhauses und vom Bildungshintergrund der Eltern ab (Bundeszentrale für politische Bildung). Kitas und Schulen sind nicht in der Lage, diese Unterschiede strukturell auszugleichen. Berlin nimmt sich dabei nicht aus.
  • Kinderarmut führt zu schlechteren Bildungschancen (Hans Boeckler-Stiftung).
  • Trotz im OECD-Vergleich überdurchschnittlicher Investitionen in die Schulbildung gleichen sich die Chancen der Kinder und Jugendlichen nicht an (SWR.de).
  • Kinder mit Migrationshintergrund sind an Hauptschulen über- und an Gymnasien unterrepräsentiert (Sachverständigenrat für Integration und Migration). Jugendliche mit Migrationshintergrund erwerben deshalb im Vergleich zu ihren Mitschüler:innen ohne Migrationsgeschichte häufiger lediglich untere oder gar keine Schulabschlüsse.
  • Kinder mit Migrationshintergrund besuchen seltener eine Einrichtung der frühkindlichen Bildung (beispielsweise eine Kita), als Kinder ohne Migrationshintergrund (Statistisches Bundesamt). Die Ursachen hierfür sind vielfältig.
  • Die Ursache für schlechtere Bildungschancen von Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichte ist nicht der „Status Migrationshintergrund“ an sich, sondern die sozioökonomische Situation, in der viele Familien mit Migrationshintergrund aus verschiedensten Gründen leben (Sachverständigenrat für Integration und Migration) und teilweise auch eine Benachteiligung innerhalb des Schulsystems, die in Berlin auch derzeit wieder verstärkt zu erleben ist. Dies insbesondere im Bereich der Beschulung Geflüchteter und bei der Kriteriensetzung für die Übergänge an weiterführende Schulen (zu diesen Punkten in folgenden Beiträgen mehr).

In diesem Beitrag werde ich mich mit der Frage befassen, welche Anstrengungen die Berliner Senatskoalition unternimmt, um Kinder- und Familienarmut zu beenden, bzw. deren Folgen abzumildern. Ich greife hierbei auch die Bundesprogramme der Parteien auf, da sich nach derzeitigem Stand im Bund ebenfalls eine Schwarz-Rote Koalition abzeichnet und weil die Armutsbekämpfung sehr wesentlich vom Bund ausgehen muss, wenn sie denn grundsätzlich sein soll.

Vorweg: im Folgenden werde ich mich auch auf Statistiken der Bundesagentur für Arbeit beziehen. Diese finden sich unter den folgenden Links (Excel-Tabellen) und sind sehr umfängliche Zahlenwerke, die sowohl Bundes-, Landes-, als auch kommunenbezogene Auswertungen zulassen. Ich werde der Übersichtlichkeit halber nicht jeden Zahlenwert aufs Neue verlinken, sondern bitte, die Ergebnisse in den Tabellen ggf. selbst zu generieren. Die Statistiken haben unterschiedliche Stichtage, da nicht jede Statistik zum gleichen Zeitpunkt erhoben wird. Ich werde die Stichtage/Monate jeweils benennen.

a) Kinder im SGBII , b) Erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberechtigte, c) Arbeitslosigkeit und Hilfebedürftigkeit von Alleinerziehenden, d) Bedarfsgemeinschaften und deren Mitglieder

 
Kinderarmut ist in der Regel die Folge von Elternarmut.

Im Umgang mit Kinderarmut gibt es dieser Feststellung folgend insofern vier wesentliche politische Hebel, wenn es um die Schaffung von Chancen und die Abschaffung von Benachteiligungen armutsbetroffener Kinder und Jugendlicher geht. Auf diese möchte ich im Folgenden konkreter eingehen:

  1. Beendigung der Armut der Eltern.
  2. Bekämpfung von Kostentreibern wie Mietpreissteigerungen.
  3. Gezielte Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche aus armutsbetroffenen Haushalten.
  4. Die Einführung einer Kindergrundsicherung.
 
1. Beendigung der Armut von Eltern

Im Folgenden beziehe ich mich auf Daten aus den oben verlinkten Statistiken der Bundesagentur für Arbeit.

Mit Stand Juni 2024 lebten in Berlin rund 151.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Haushalten im Bürgergeldbezug. Das sind rund 23% der Berliner Kinder und Jugendlichen, also beinahe jede vierte Person unter 18 Jahren. Berlin gehört damit neben Hamburg und Bremen zu den traurigen Spitzenreitern unter den Bundesländern.

69.000 Kinder und Jugendliche lebten mit einem alleinerziehenden Elternteil zusammen, rund 82.000 mit zwei Elternteilen.

Mit welchen Maßnahmen möchten die Koalitionsparteien versuchen, Elternarmut zu beenden?

Die Berliner Koalition möchte laut Koalitionsvertrag zweigleisig fahren. Bezüglich der Bekämpfung von Kinderarmut, die sich nicht auf direkte Transferleistungen an die Betroffenen bezieht, schreibt man im Koalitionsvertrag

Die Koalition verfolgt eine umfassende Strategie zur Bekämpfung von Kinderarmut unter Beteiligung von Bündnispartnern. Aufbauend auf dem bisher Erreichten, wie der Berliner Strategie gegen Kinder- und Familienarmut, der Berliner Armutsstrategie und der ressortübergreifenden Gemeinschaftsinitiative, werden in einem „Chancenbündnis“ zur Bekämpfung von Kinder- und Familienarmut die Maßnahmen interdisziplinär erarbeitet und koordiniert.

Koalitionsvertrag, Seite 73

Dies ist sinnvoll, da sowohl die Anzahl der Angebote, als auch die der Anbieter (sehr häufig freie Träger) hoch ist und eine Koordination benötigt. Kosten- und Bedarfsträger sind die Senatsverwaltungen sowie die Bezirksämter. Angesichts der hohen Armutsquote in Berlin und der vielen Ursachen von Armut ist ein breites Angebotsspektrum sinnvoll und notwendig. 

Die „Landeskommission Kinder- und Familienarmut“ schildert die Strategien und Angebote auf ihrer Webseite ausführlich. Sorge bereitet vielen städtischen Akteuren der Sparkurs des Senats, da dieser auch Angebote der Armutsbekämpfung betrifft und absehbar auch weiter betreffen wird. Auffällig hoch sind bereits jetzt die Kürzungen bei Angeboten zur Integration von Geflüchteten. Dies war auch Thema im Bildungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses am 06.03.2025 und ich komme weiter unten in diesem Text auf das Thema zurück.

Eine über die Analysen, die den oben genannten Strategien zugrunde liegen, hinausgehende Einschätzung zu den Ursachen von Armut ist im Berliner Koalitionsvertrag nicht zu finden.

Die Berliner Senatskoalition formulierte im Koalitionsvertrag, dass ein Aufwachsen in Armut verhindert werden solle, indem man sich beim Bund für eine Kindergrundsicherung einsetzt (Koalitionsvertrag, Seite 73). Man geht an an dieser Stelle also von einer Armutsbekämpfung über Sozialleistungen aus. Ob hierbei eine Erhöhung der Sozialleistungen für Kinder und Jugendliche angestrebt wird, oder ob es um eine Vereinfachung der Geltendmachung von Ansprüchen geht (oder beides), bleibt im Koalitionsvertrag offen.

Eine Bundesratsinitiative des Berliner Senats für eine Kindergrundsicherung gab es bisher nicht. Staatssekretär Liecke (CDU) stellte bei den jüngsten Beratungen des Bildungsausschusses im Abgeordnetenhaus (Ausschusssitzung vom 06.03.2025) lediglich dar, dass es Beratungen der Länder mit dem Bund gegeben hätte, die aber letztlich am Bund gescheitert wären.

Da die Berliner Koalition in diesem Zusammenhang in ihrem Koalitionsvertrag auf den Bund verweist, habe ich u.A. die Wahlprüfsteine 2025 des Paritätischen Gesamtverbandes zurate gezogen, die dieser im Zusammenhang mit der Bundestagswahl an diejenigen Parteien geschickt hat, die sich aussichtsreich um Mandate im Bundestag bewarben. Da sich zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags abzeichnet, dass die Konstellation im Bund demnächst die Gleiche sein wird, wie im Land Berlin (Union und SPD), erschien es mir hinreichend, mich hier auf die Aussagen von CDU/CSU und SPD zu beschränken.

Die Frage des PARITÄTISCHEN:

„Werden Sie sich im Sinne der Freiheit von Armut für armutsfeste und sanktionsfreie Sozialleistungen einsetzen?“

Antwort der SPD: „Alle Bürger*innen haben das Recht auf Arbeit. Deshalb soll jeder Bürgergeldbezieher ein passendes Angebot erhalten. Wir setzen dafür auf eine stärkere Finanzierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Wir werden daher den Passiv-Aktiv-Transfer ausweiten, vereinfachen und gesetzlich verankern. Wir wissen, dass die meisten Menschen im Bürgergeldbezug, die arbeiten können, auch arbeiten wollen. Das Bürgergeld ist eine steuerfinanzierte Grundsicherung und kein bedingungsloses Grundeinkommen. Deswegen wird zu Recht Mitwirkung eingefordert. An diesem Prinzip des Forderns halten wir fest. Ziel des Bürgergelds ist es, Menschen mithilfe von Qualifizierung und Weiterbildung zu unterstützen, die eigene Hilfebedürftigkeit zu beenden. Neben Weiterbildung hat sich auch das Instrument des sozialen Arbeitsmarktes, der neue Chancen einer sozialversicherten Arbeit nachzugehen eröffnet, bewährt. Wir haben die Regelungen für den sozialen Arbeitsmarkt deshalb entfristet.“

Antwort der CDU/CSU: „Das sogenannte „Bürgergeld“ in der jetzigen Form schaffen wir ab und ersetzen es durch eine Neue Grundsicherung. Den Vermittlungsvorrang führen wir wieder ein. Wenn jemand grundsätzlich nicht bereit ist, Arbeit anzunehmen, muss der Staat davon ausgehen, dass er nicht bedürftig ist. Dann muss die Grundsicherung komplett gestrichen werden. Wir werden Arbeitsanreize verstärken, indem wir Hinzuverdienstgrenzen reformieren. Mit dem Aussetzen von Sanktionen hat die Ampel den Mitarbeitern der Jobcenter die Mittel genommen, diesen berechtigten Anspruch der Steuerzahler auch einzufordern. Deshalb wollen wir Sanktionen schneller, einfacher und unbürokratischer durchsetzen. Wir vertrauen darauf, dass die Jobcentermitarbeiter die Sanktionsmöglichkeiten verantwortungsvoll, individuell angemessen und verhältnismäßig nutzen.“

Die Schnittmenge zwischen den Antworten der beiden Bundesparteien liegt somit in der Darstellung, dass Armut durch Erwerbsarbeit beendet werden müsse und dass Erwerbsarbeit dazu auch in der Lage sei. Die Aufnahme von Erwerbsarbeit möchte man fördern, indem a) der Vermittlungsdruck erhöht wird, b) Qualifizierungen und Weiterbildungen mit dem Ziel der Eingliederung stattfinden und c) der Sanktionsdruck erhöht wird. Die Anhebung von Hinzuverdienstgrenzen, wie sie die CDU fordert, wird zumindest direkt die Armut nicht beenden, da dieser Vorschlag bereits implizit davon ausgeht, dass die Betroffenen dennoch grundsätzlich im Bürgergeldbezug bleiben werden, wenn auch mit einem höheren Selbstbehalt.

Da das Bürgergeld, wie vielfach von Sozialverbänden vorgerechnet, nicht armutsfest ist, wird sich daran auch bei einem höheren Selbstbehalt nichts Grundlegendes ändern. Die Erhöhung des Selbstbehalts, also der Freibeträge, ist an sich sinnvoll, aber allenfalls bedingt ein Mittel zur dauerhaften Armutsbekämpfung. Aus der Antwort der CDU wird aber deutlich, dass jemand, der arbeitet, aufgrund der Freibeträge immer mehr hat, als jemand, der nicht arbeitet, was nicht in allen Phasen des Wahlkampfes so dargestellt wurde.

Die potentiellen Koalitionsparteien adressieren mit ihren Forderungen diejenigen Betroffenen, die durch „Weiterbildung, Vermittlungsvorrang und Sanktionsdruck“ in Arbeit vermittelt werden können. Bürgergeldempfänger:innen, bei denen dies nicht der Fall ist, beispielsweise bei denjenigen mit psychosozialen Herausforderungen und anderen, weiteren Problemen, die eine langanhaltende Armut häufig begleiten und die eine Vermittlung erschweren können, finden in der Antwort der CDU nicht statt. In der Antwort der SPD können ihre Belange in Teilen unter den Aspekten „Sozialer Arbeitsmarkt“ und „Passiv-aktiv-Transfer“ mitgelesen werden.

In der Annahme, dass ich in den jüngsten Wahlprogrammen der beiden Parteien mehr Informationen finde, als in den genannten Antworten, habe ich diese befragt:

Im Wahlprogramm 2025 der SPD tauchte der Begriff „Kinderarmut“ einmal auf. Die Antworten auf Kinderarmut sind „mehr Wohngeld“, „Kindergeld, Kinderzuschlag“ und „mehr Betreuung, Bildung und Pflege, auf die man sich verlassen kann“ (Seite 26). Unter dem Schlagwort „Kindergrundsicherung“ (ein Treffer) finden sich Maßnahmen, die die Kinderarmut nicht beenden, aber mildern können, wie Ganztagsangebote in Schulen und kostenfreie Schul- und Kitaverpflegung. Armutsbekämpfung bleibt demnach eine Aufgabe der Erwerbsarbeit. Die SPD forderte einen Mindestlohn von 15€ pro Stunde. Ein Anspruch auf ein armutsfreies Aufwachsen, welches nicht vom Erwerbseinkommen der Eltern abhängig ist, findet sich im Wahlprogramm allenfalls in homöopathischen Dosen.

Das Wahlprogramm der CDU 2025 bezieht sich fünf mal auf Armut: einmal im Themenkanon mit „Migration“ und „Sicherheit“ im Bezug auf Afrika, einmal im Bezug auf Altersarmut bei Aussiedlern und Spätaussiedlern (der ehemaligen Sowjetunion, Anm.), einmal bei Alleinerziehenden (die durch eine Erhöhung des steuerlichen Entlastungsbetrags entlastet werden sollen), einmal im Begriff „Armutszeugnis“ im Bezug auf bundesweit zehntausende Schulabgänger ohne Abschluss in jedem Jahr und einmal im Bezug darauf, dass Pflege kein Armutsrisiko darstellen dürfe.

Der Begriff „Kindergrundsicherung“ existierte im CDU-Wahlprogramm nicht. Kinderarmut wurde als eigenständiges Problem nicht benannt. Höhere Löhne sollen vor Allem durch Steuersenkungen erreicht werden und darüber hinaus Aufgabe der Tarifpartner sein. Armutsfestigkeit von Löhnen ist kein explizites Thema. Das Bürgergeld soll umbenannt, an deutlich höhere Kriterien geknüpft und komplett gestrichen werden können. Der Anspruch von Kindern auf einen armutsvermeidenden Lebensunterhalt ist selbst bei der Forderung nach der Komplettversagung von Leistungen aufgrund des Fehlverhaltens von Eltern kein Thema.

Kinder haften für ihre Eltern.

Um herauszufinden, ob die in den oben stehenden Antworten genannten Punkte „Sanktionsdruck, Vermittlungsvorrang und Weiterbildungen“ im Grundsatz geeignete Instrumente sein können, um Eltern- und damit Kinderarmut wirklich zu beenden, habe ich nochmal die oben genannten Statistiken der Bundesagentur für Arbeit bemüht und ein paar Fragen an diese formuliert:

  1. Um wie viele Elternteile, die derzeit in Berlin keiner Arbeit nachgehen und die deshalb vermittelt werden können, geht es?
  2. Wie viele Elternteile in Berlin sind arm, aber nicht arbeitslos?
  3. Was sind statistisch häufige Korrelationen bei Langzeitarbeitslosen und Unterbeschäftigten?

Hierzu drei Anmerkungen vorweg:

  • als Arbeitslos wird im §138 drittes Buch Sozialgesetzbuch III (SGB III) definiert, wer u.A. keine Tätigkeit mit einem Umfang von mindestens 15 Stunden pro Woche ausübt. Wenn jemand eine Teilzeittätigkeit mit unter 15 Wochenstunden ausübt (also einem „Minijob“ nachgeht), gilt er/sie statistisch nach wie vor als Arbeitslos.
  • Anspruchsbegründend für Bürgergeld ist nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Bedürftigkeit. Es ist möglich, einem Job nachzugehen und dennoch bedürftig zu sein, weil dieser Job den Lebensunterhalt nicht abdeckt.
  • Ich beziehe mich in diesen Ausführungen auf die Statistiken der Berliner Jobcenter, es geht also um Bürgergeldempfänger nach dem zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGBII). Ausschließliche Arbeitslosengeldempfänger nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGBIII) beenden ihre Arbeitslosigkeit in der Regel innerhalb eines Jahres, weshalb die Folgen lang anhaltender Armut diese und ihre Kinder zumeist nicht vergleichbar treffen und zumindest an dieser Stelle in der Betrachtung unberücksichtigt bleiben.

Aber ein paar Zahlen:

In Berlin lebten im September 2024 rund 468.000 Menschen im Bürgergeldbezug. Von diesen waren rund 329.000 Menschen tatsächlich auch erwerbsfähig, also in der Lage, einer Beschäftigung nachzugehen. Die Differenz von fast 140.000 Menschen entsteht insbesondere durch Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren sowie Personen, die aus anderen Gründen nicht erwerbsfähig sind.

Von den genannten erwerbsfähigen 329.000 Berlinerinnen und Berlinern im Bürgergeldbezug entfielen rund 71.000 Menschen auf die Gruppe der „Aufstocker“ (Personen, die trotz Arbeit in einem Umfang von mehr als 15 Wochenstunden, häufig sogar bei gleichzeitigem Vorliegen einer Sozialversicherungspflicht, arm sind). Rund 118.000 Personen waren aus anderen Gründen mindestens vorübergehend nicht vermittelbar (Pflege von Angehörigen, Elternzeiten, lang anhaltende schwere Erkrankungen, etc.).

Somit verbleiben in Berlin noch rund 140.000 Personen, die arbeitslos und erwerbsfähig sind. Hauptsächlich an diese kann sich das „Maßnahmenpaket“ aus „Vermittlungsvorrang, Sanktionsdruck und Weiterbildung“ überhaupt richten, denn wer hingegen eine Arbeit ausübt, braucht keinen Sanktionsdruck. Oder anders gesagt: denjenigen, die bereits arbeiten, helfen diese Vorschläge nicht. Allenfalls können Weiterbildungen im Einzelfall helfen, das eigene Gehalt zu steigern.

Der Koalitionsvertrag der Berliner Senatskoalition formuliert einen Unterstützungsauftrag zur „zielgruppenspezifischen Erarbeitung von Strategien für entsprechende Qualifizierungsangebote zur Aneignung von digitalen Kompetenzen und Sicherung von armutsfesten Einkommen.“ (Seite 69), dies scheint mir aber angesichts der Dimension des Problems allenfalls ein Beitrag zu einer Teillösung zu sein.

Die Fragen, welche Rahmenbedingungen Menschen in unterbezahlte Jobs und Eltern in Teilzeitbeschäftigungen zwängen und wie armutsfeste Löhne und Gehälter erreicht werden können, finden sowohl in den Antworten der Bundesparteien, als auch im Berliner Koalitionsvertrag keine expliziten Bezüge jenseits des zweifelsohne nötigen Kitaplatzausbaus oder des Ausbaus der Ganztagsschulen.

Vom Berliner Senat sind Maßnahmen, die Armut strukturell beenden, nicht zu erwarten. Das hat einerseits damit zu tun, dass das Abgeordnetenhaus nicht der Gesetzgeber für die Grundsicherung ist und andererseits damit, dass sämtliche mildernden Maßnahmen des Senats derzeit unter finanziellem Druck stehen oder befürchten müssen, Streichungen zu erleben. Die Analysen und die Vorschläge der Bundesparteien zur Bekämpfung von Kinderarmut greifen zu kurz, um diese zu beenden. Die Konzepte der Landes- und der Bundesparteien zur Armut widersprechen sich mitunter.

Überdies findet die Betroffenenperspektive in der politischen Debatte zu wenig statt. Die Debatte über Kinderarmut müsste auch in deutlich größerem Umfang Kinder-, Jugend- und familienpolitisch und nicht überwiegend wirtschafts- oder arbeitsmarktpolitisch geführt werden.

Interessenkonflikte

Arbeitgeber zahlen für Arbeit und nicht für die Lebensumstände ihrer Beschäftigten. Oder anders gesagt: von Arbeitgebern kann i.d.R. nicht erwartet werden, dass sie beispielsweise für Teilzeitbeschäftigungen armutssichere Gehälter zahlen, die ganze Familien absichern. Zeitgleich sind Teilzeitbeschäftigungen für Eltern häufig eine Notwendigkeit, um ihren familiären Aufgaben nachkommen zu können, die heute komplexer sind, als noch vor 20 Jahren.

Die Existenz des Bürgergelds ist auch eine politische Antwort auf diese kaum direkt auflösbaren Interessenkonflikte. Mit diesem gleicht der Staat unter Anderem die unterschiedlichen Interessen von Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden aus, indem er Gehälter durch Transferleistungen ergänzt, um Hilfebedürftigkeit der Arbeitnehmenden vermeiden. Im Jahr 2024 waren es bundesweit im Schnitt 830.000 Personen, deren Gehälter „aufgestockt“ wurden. Das sind rund 2 Prozent der 46,1 Mio. Beschäftigten in Deutschland.

Deutschland liegt im Größenvergleich der Niedriglohnsektoren innerhalb der 27 EU-Staaten auf Platz 6. Mehr als jede fünfte Arbeitnehmerin und jeder fünfte Arbeitnehmer (20,7%) arbeitet für einen Niedriglohn.

Die Ermöglichung eines derart großen Niedriglohnsektors war eine politisch breit getragene Entscheidung der frühen 2000er Jahre und insofern ist eine breite Armutsgefährdung bis hin zur Notwendigkeit, Löhne und Gehälter durch die Zahlung von Sozialleistungen zu ergänzen, eine logische Folge dessen. Wer auf politischer Ebene schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse ermöglicht, bekommt schlecht bezahlte Arbeitnehmende.

Die politische und auch gesellschaftliche Debatte rund um das Bürgergeld erklärt die daraus erwachsenen Nachteile für Arbeitnehmer:innen jedoch tendenziell zu einem individuellen Versagen der Betroffenen und damit scheint es manchen auch legitim zu sein, auf die Frage nach der Bekämpfung von Kinderarmut mit Forderung nach mehr Repression gegenüber ihren Elternhäusern zu antworten.

Aber was ist mit den 140.000 Langzeitarbeitslosen?

Wenn es um die 140.000 Berlinerinnen und Berliner geht, die tatsächlich arbeitslos sind (rund 4% der Einwohnerinnen und Einwohner), ist ein Blick in die Strukturdaten der Berliner Jobcenter vom September 2024 so erhellend, wie niederschmetternd:

  • 30.000 von diesen 140.000 Personen haben keinen Schulabschluss (21%).
  • 32.000 von diesen 140.000 Personen haben lediglich einen Hauptschul- oder vergleichbaren Abschluss (23%).
  • 90.000 von diesen 140.000 Personen haben keinen anerkannten Berufsabschluss (64%).
  • Eine relevant große Schnittmenge dieser Personengruppen wird insofern weder über einen Schul- noch über einen Berufsabschluss verfügen (hier ist lediglich die Schlussfolgerung auf Basis der anderen Werte möglich, da diese Überschneidungsquote nicht in den Statistiken ausgewiesen wird).

Wie viele dieser rund 140.000 Personen Eltern sind, lässt sich nicht sauber aus den Statistiken herauslesen, aber rund 10% dieser 140.000 Menschen sind Alleinerziehende. Von diesen haben rund 50% entweder keinen Schulabschluss, oder aber lediglich einen Hauptschulabschluss. Zwei Drittel der alleinerziehenden Langzeitarbeitslosen im September 2024 waren ohne anerkannten Berufsabschluss.

Den größten Anteil unter Alleinerziehenden stellt die Altergruppe zwischen 35 und 45 Jahren. Das sind, um den Bogen zur Bildung zu schlagen, diejenigen Menschen, die das Bildungswesen vor Jahren und Jahrzehnten ohne Perspektive entlassen hat und die mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit auch selbst in Armut aufgewachsen sind.

Es lässt sich also feststellen:

  • Eine Bekämpfung von Elternarmut durch „Vermittlungsdruck, Sanktionsdruck und Weiterbildung“ ist angesichts der Rahmenbedingungen nur bedingt Erfolg versprechend und wird an den besonderen Problemstellungen einer sehr großen Zahl der Betroffenen schlichtweg vorbeigehen. Wer bereits arbeitet, der braucht keinen Sanktionsdruck, sondern einen hinreichend gut bezahlten Job und/oder Rahmenbedingungen, die Eltern von all den Aufgaben entlasten, die ein überlastetes Bildungswesen ihnen faktisch rücküberträgt. Den Kindern hilft dieses Vorgehen auch nicht. Die sich anbahnende Koalition im Bund scheint dies nicht hinreichend zu berücksichtigen.
  • Alleinerziehende ohne Schul- und Berufsabschluss werden sich ohne flankierende Unterstützungsangebote nicht in einen Job vermitteln lassen, der die Familienarmut beendet. Dass jemand in einer solchen Lage ist, hat Ursachen, die durch „Vermittlungsdruck, Sanktionsdruck und Weiterbildung“ absehbar nicht beendet werden können. Selbst, wenn es gelingt, die Betreffenden in Tätigkeiten zu vermitteln, werden diese absehbar nicht so gut bezahlt sein, dass sie die Bedürftigkeit der jeweiligen Familie beenden können.

Diese armutsbetroffenen Personen sind wie oben geschrieben diejenigen, die das Berliner Bildungssystem in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ohne Abschluss und Anschlussperspektive entlassen hat. Insofern ist es sinnvoll, dass der Senat mit dem „Elften Pflichtschuljahr“ solchen Problemlagen begegnen und vorbeugen möchte, aber hierzu an anderer Stelle mehr. Für die heute betroffenen Eltern kommt es hingegen viel zu spät. Die Koalition im Bund hat für diese Personengruppe keine neuen Ideen und die Koalition auf Landesebene hat kein Geld, so dass sich die Einsparungen des Berliner Senats insbesondere auch für Armutsbetroffene negativ auswirken werden.

Eine relevant große Gruppe von Bürgergeldbezieher:innen stellen Geflüchtete dar. Diese brauchen aus arbeitsmarktpolitischer Perspektive insbesondere zweierlei, um am Arbeitsmarkt in eine qualifizierte Tätigkeit einmünden zu können:

eine beschleunigte Anerkennung von Berufsabschlüssen und beruflichen Qualifikationen einerseits sowie etwaige Weiterbildungen und Sprachkurse für die Vorbereitung auf einen Beruf andererseits. Die zu langsame Anerkennung von Berufsabschlüssen ist seit Jahren ein Problem, das viele Menschen in Tätigkeiten zwängt, die einerseits unter ihrer tatsächlichen Qualifikation liegen und die andererseits durch schlechte Bezahlung zu einem anhaltenden Bürgergeldbezug führen.

Auch in Berufsfeldern, die ohne eine Anerkennung eines ausländischen Berufsabschlusses auskommen, scheint die Einmündung schwierig zu sein. Die ohnehin schon immer zu knappen Sprachkurse wiederum werden derzeit vom Bund zusammengestrichen und vom Land Berlin nicht kompensiert. In der langfristigen Perspektive zeigt sich, dass sich die Zeiträume zwischen einer Migration nach Deutschland und einer Einmündung in den Arbeitsmarkt in den letzten Jahren merklich verkürzt haben (Interview mit Prof. Dr. Aladin el Mafaalani, Soziologe und Bildungsforscher), es besteht jedoch weiterhin vielseitiger Handlungsbedarf, um diese Zeiträume weiter zu verkürzen.

„Sanktionsdruck, Vermittlungsvorrang und Weiterbildungen“ können auch bei Geflüchteten allenfalls ein Teil dieser Maßnahmen sein. Es bleiben beispielsweise die Notwendigkeit von Sprachkursen und eine ernstgemeinte Willkommenskultur, die Menschen mit Migrationshintergrund hilft, den Weg in den Deutschen Arbeitsmarkt zu finden. Die (auch bürokratischen) Hürden sind komplexer, als es manche Wahlkampfrede vermuten lassen möchte.

 
2. Bekämpfung von Kostentreibern wie Mietpreissteigerungen.

Mietpreissteigerungen stellen in Berlin mittlerweile in beinahe allen sozialen Millieus ein Problem dar. Hohe Mieten sind ein Armutsrisiko, da sie das verfügbare Haushaltseinkommen mindern. Eine Bekämpfung von Armut ist insofern nur möglich, wenn auch an dieser Stelle angesetzt wird. Dies ist kein Blog über Wohnungs- und Baupolitik, weshalb ich mich an dieser Stelle nicht darin versuchen möchte, mich ohne genauere Kenntnis zu vertiefen.

Feststellen lässt sich aber im Ergebnis, dass die Verfügbarkeit von freiem Wohnraum in Berlin seit Jahren dramatisch niedrig ist, während die Mietpreise seit Jahren in beinahe jedem Quartal neue Höchststände „feiern“ und die Entwicklung der Mieten die Reallohnentwicklung schon seit Langem abgehängt hat.

Wohnraummangel führt insofern nicht „nur“ zu Armut und auch steigender Obdachlosigkeit, sondern für Familien oft dazu, dass es für Kinder keine eigenen Kinderzimmer oder anderweitige Rückzugsräume gibt. Das ist nicht nur ein soziales Problem, sondern wirkt sich auch auf die Bildungschancen von Kindern aus, wenn sie keinen Raum haben, in dem sie ungestört Hausaufgaben machen, oder sich zur Erholung vom Alltag zurückziehen können. Gleichzeitig „fressen“ steigende Mietpreise das Geld auf, das man als Familie andernfalls für Freizeit- und Bildungsangebote ausgeben könnte. Steigende Mietpreise wirken sich in allen sozialen Millieus somit auch auf Bildungschancen aus.

Gemessen am Ergebnis muss man feststellen, dass auch die jetzige Koalition es nicht schafft, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Dass die Aussage des voraussichtlich künftigen Bundeskanzlers Friedrich Merz (CDU) über eine Pauschalierung der Mietenübernahme im Bürgergeld wie im Nachhinein berichtet, lediglich eine Unkenntnis des eigenen Programms war, bleibt zu hoffen. Andernfalls würde dies keine Senkung der Mieten, sondern eine Vertreibung von Armutsbetroffenen aus der Stadt oder in die Obdachlosigkeit zur Folge haben.

Steigende Mietpreise sind – nebenbei bemerkt – auch ein Kostentreiber im Bürgergeld, da die Mietpreissteigerungen direkt oder indirekt an die Vermieter überwiesen werden. Rund ein Drittel der veranschlagten Ausgaben für das Bürgergeld im laufenden Jahr 2025 (11 Mrd. Euro von 36 Mrd. Euro) entfallen auf die Übernahme von Mieten und Nebenkosten (Statista). Eine Bekämpfung der Mietpreissteigerungen wäre insofern auch eine Kostensenkung beim Bürgergeld, die den Charme hätte, nicht zulasten der Leistungsempfänger:innen zu gehen.

 
3. Gezielte Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche aus armutsbetroffenen Haushalten.

Um die vielfältigen Angebote des Landes Berlin und seiner Bezirke zur Vorbeugung von Armut und zur Milderung von Armutsfolgen zu synchronisieren, wurden von früheren Senaten die Eingangs erwähnten Formate entwickelt.

Diese bündeln eine Vielzahl von Maßnahmen, die die Folgen von Armut mildern, Ursachen von Armut bekämpfen und die Stadtgesellschaft stärken sollen. Die Ansätze sind Ressortübergreifend entwickelt, sie beinhalten also Angebote aus den Zuständigkeiten der verschiedensten Senatsressorts (beispielsweise Bildung, Jugend und Familie, Soziales und Kultur) und den Bezirken.

Viele dieser Maßnahmen werden jedoch nicht durch das Land Berlin selbst durchgeführt, sondern durch zahlreiche Träger mit unterschiedlichsten Schwerpunkten und durch die Bezirke. Die derzeit vorgenommenen Einsparungen im Landeshaushalt treffen diese Träger und ihre Angebote in besonderem Maße, was somit direkt zu einer Schwächung der Angebote führt und damit armutsbetroffene Familien und ihre Kinder besonders belastet.

Die Koalition hält am eintrittsfreien Sonntag in den Museen fest.

Koalitionsvertrag 2023-2026, S. 106

Es war 2023, als man diesen Satz in den Koalitionsvertrag schrieb. Der eintrittsfreie Sonntag wurde dann im Dezember 2024 gestrichen. Er war kein Angebot im Sinne der Armutsstrategie, aber er trifft armutsbetroffene Familien und deren Kinder besonders, weil diese das Angebot nicht anderweitig kompensieren können und ist ein besonders plakatives Beispiel für die Kürzungen des Senats, die sich auch auf Bildungsmöglichkeiten auswirken.

 

4. Einführung einer Kindergrundsicherung

Die Einführung einer Kindergrundsicherung war nicht nur eines der gescheiterten Projekte der Ampelkoalition auf Bundesebene, sondern sie ist auch erklärte Absicht der Berliner Senatskoalition.

Die Koalition wird sich im Bund für eine wirksame Reform der staatlichen Transferleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von Kindern einsetzen, die durch eine Bündelung und einen verbesserten Zugang die Teilhabe an diesen Leistungen erleichtert – beispielsweise durch eine eigenständige Kindergrundsicherung.

Koalitionsvertrag 2023-2026, S. 38

Ob sich die Berliner Landesverbände von CDU und SPD mit diesem Thema in die Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene einbringen und welche Rolle dabei insbesondere die Senatorinnen Günther-Wünsch (Bildung, Jugend und Familie, CDU) und Kiziltepe (Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung, SPD) einnehmen werden, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Angesichts des sehr zurückhaltenden Umgangs der Bundesparteien mit diesem Thema (siehe oben) dürfte man da dicke Bretter bohren müssen.

 
Schlussbemerkung: Redaktionsschluss für diesen Beitrag war der 06.03.2025. Das Sondierungspapier von CDU und SPD vom 08.03.2025 wurde deshalb hierin nicht mehr aufgegriffen.

Beitragsfoto: Marco Fechner via Ideogram.ai