Mitglieder aller Fraktionen des Abgeordnetenhauses trafen sich am Montag, den 30. Juni, um gemeinsam Einsicht in die Akten zum Fall des gemobbten Lehrers einer Berliner Schule zu nehmen. Der Vorgang hat in den vergangenen Wochen bundesweit Wellen geschlagen und auch ich habe verschiedentlichst auf diesem Blog berichtet.
Wie ich in meinem letzten Beitrag zu diesem Fall (über die Debatte im Abgeordnetenhaus in der zurückliegenden Woche) schrieb, ging ich davon aus, dass die Bewertungen der verschiedenen Fraktionen absehbar auch parteipolitisch gefärbt sein werden.
Mehr, als die Differenzen in den Bewertungen hat mich deshalb interessiert, in welchen Zusammenhängen es nach der Akteneinsicht gemeinsame Bewertungen geben wird und auch, wie die Abgeordneten und ihre Fraktionen mit diesem Tag kommunikativ umgehen.
Vorweg: alle nicht vom Verfassungsschutz u.A. wegen Agitation gegen die Menschenwürde beobachteten Fraktionen kamen nach Akteneinsicht zum Ergebnis, dass Mobbing vorlag, wenn auch mit Differenzierungen in den Bewertungen. Auf diese Fraktionen beziehe ich mich im Folgenden.
Die Abgeordneten trafen sich um 9:00 Uhr in der Bildungsverwaltung und konnten knapp 4 Stunden lang Akteneneinsicht nehmen. Im Anschluss trafen sie sich mit der Senatorin für eine gemeinsame Besprechung.
Die anschließenden Bewertungen von Senatorin Günther-Wünsch und den Mitgliedern der Fraktionen:
Senatorin Günther-Wünsch (CDU) gegenüber dem Tagesspiegel:
„Wir brauchen eine zentrale Stelle, die steuert und monitort im Bereich der Mobbing- und Diskriminierungsfälle […] Wir sehen ja, dass die dezentralen Stellen eher zur Verantwortungslosigkeit oder zur Verschiebung von Verantwortung geführt haben, aber nicht zur Lösung, geschweige denn zu Hilfsangeboten für die betroffenen Kolleginnen und Kollegen. […] „Wir werden Aufgabenprofile neu nachschärfen, weil es zukünftig besser gelingen muss, dass Schulaufsichten Schulleitungen unterstützen.“
Sandra Khalatbari (CDU) bezeichnete die Akteneinsicht als „gut, wichtig und richtig“. Sie lobte die Offenheit der Senatorin und betonte, dass der Fall komplex sei und sachlich aufgearbeitet werden müsse. Die bisherigen Strukturen müssten überprüft, alle Beteiligten besser geschult werden. Es gelte, sowohl die Schutzbedürfnisse der Schüler als auch die Rechte und Sorgen der Lehrkräfte ernst zu nehmen.
Louis Krüger (Bündnis ’90/Die Grünen) sprach nach dem Termin von einem „Aufsichts- und Leitungsversagen“. Es sei deutlich geworden, „dass einzelne Personen ihrer aufsichts- wie auch dienstrechtlichen Pflichten nicht vollumfänglich nachgekommen sind und es an Standards fehlt. Hier braucht es dienstrechtliche Konsequenzen“, sagte er. Beschwerdestrukturen würden nicht greifen. An der Zusage der Senatorin, die Strukturen zu verbessern, würden die Grünen sie „messen“. Ähnlich lautend äußerte sich sein Fraktionskollege Taylan Kurt (Bündnis ’90/Die Grünen) bei Instagram. Louis Krüger weiter: die Rolle der Senatorin sei in diesem Fall aus seiner Sicht in den Akten nicht hinreichend transparent gemacht worden.
Lars Bocian (CDU) hingegen wusste bereits zum Beginn der Akteneinsicht ab 9 Uhr, dass die Senatorin „Volle Transparenz im Fall der Carl-Bolle-Schule“ hergestellt haben wird und teilte dies der Instagram-Community via Story umgehend mit (Screenshot).

Marcel Hopp (SPD) äußerte sich gegenüber der RBB Abendschau dahingehend, dass es ein „strukturelles Aufsichts- und Leitungsproblem“ gäbe. Er sähe sich „in dieser Haltung bestärkt“ und er teile die Einschätzung der Senatorin aus der Ausschusssitzung vom 05.06.2025, dass die Aktenlage und die Berichterstattung weit auseinanderlägen, nicht.
Franziska Brychcy (DIE LINKE) bei Instagram:
„Die heutige Akteneinsicht hat untersetzt, dass […] Diskriminierungen ausgesetzt gewesen ist. Schulleitung und Schulaufsicht haben nicht adäquat auf die von ihm erhobenen Diskriminierungsvorwürfe reagiert. Wenngleich es ein komplexer Fall ist, ist für mich unverständlich, dass seitens der Senatsverwaltung für Bildung und der Senatorin über „Diskrepanzen“ zwischen intern erhobenen „Vorwürfen“ und der öffentlichen Berichterstattung gesprochen wird. Von Frau Senatorin Günther-Wünsch erwarte ich, dass sie die Versäumnisse in ihrem Haus anerkennt, die Übernahme von Verantwortung und entsprechende Maßnahmen, damit sich ein solcher Fall nicht wiederholt.
Die Akteneinsicht hat ergeben, dass es in der Bildungsverwaltung offensichtlich strukturelle Probleme im Umgang mit derlei Beschwerden gibt. Diese reichen von AGG-Beschwerden, die verloren gehen, bis hin zu Unklarheiten wie im Fällen von möglicher Voreingenommenheit umgegangen werden soll. Diese Probleme müssen durch die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie umgehend aufgearbeitet und angegangen werden. Es braucht verbindliche Verfahren und Standards, Qualifizierung und Fortbildung sowie eine unabhängige Beschwerdestelle, die auch im AGG-Bereich mit entsprechenden Kompetenzen tätig werden kann. Hierfür steht die Bildungssenatorin in Verantwortung.
Schlussendlich bleiben auch nach der Akteneinsicht Fragen offen, wie die Hausspitze der Bildungsverwaltung und die Bildungssenatorin ihre politische Verantwortung für rechtmäßiges Verwaltungshandeln, ihre Fürsorgepflicht für die Mitarbeitenden im Berliner Schulwesen und die Pflicht, Missstände, die bekannt werden, unverzüglich und restlos aufzuklären, wahrnehmen.
Wir erwarten von Senatorin Günther-Wünsch, dass sie in der kommenden Sitzung des Bildungsausschusses zu diesen Themen Stellung nimmt und haben eine entsprechende Frage eingereicht.“
Dass struktureller Handlungsbedarf gegenüber Diskriminierungen und Mobbing parteiübergreifend erkannt wurde, ist ein wirklicher Fortschritt und die konkrete Umsetzung durch Abgeordnetenhaus und Bildungsverwaltung bleibt abzuwarten. Ebenso bleibt die Aufarbeitung des auslösenden Falls eine Aufgabe.
Kommunikation
Interessant ist die Kommunikation des heutigen Termins durch die einzelnen Fraktionen:
Während SPD, Grüne und Linke sehr aktiv in die Medien, auch in die sozialen Medien, getreten sind, um ihre Einschätzungen mitzuteilen, gibt es von Vertreterinnen und Vertretern der CDU zurückhaltende bis gar keine Statements.
Das Statement der Senatorin ist insofern interessant, als dass es die erste Einlassung der Senatorin zum Fall ist, die auf mögliche Konsequenzen aus dem Fall weist. Ein Bedauern gegenüber dem Betroffenen war auch heute nirgends zu lesen. Auf dem sonst sehr aktiven Instagram-Kanal der Bildungsverwaltung gibt es keine Verlautbarungen.
Die bildungspolitische Sprecherin der CDU, Sandra Khalatbari, wurde in verschiedenen Medien mit der oben zitierten Aussage erwähnt, die die Aussage der Senatorin wiederholt und die Senatorin lobt. Weitere inhaltliche Einschätzungen gibt es nicht. Auf dem Instagram-Kanal der CDU-Fraktion gibt es seit heute ein Video von Frau Khalatbari, welches aus zweierlei Gründen interessant ist:
- Es ist auf dem üblicherweise von männlichen Fraktionsmitgliedern dominierten Kanal das erste Statement einer Frau seit über 4 Monaten und
- geht es bei dem Statement nicht um die heutige Akteneinsicht, oder den Fall im Allgemeinen, sondern um eine Rede zur Lehrkräfteausbildung, die sie in der zurückliegenden Woche im Plenum gehalten hat. Man könnte anhand von Timing und Themensetzung den Eindruck gewinnen, die CDU-Fraktion hätte heute gern über etwas Anderes gesprochen.
Von weiteren Mitgliedern der CDU-Fraktion gab es bisher keine auffindbaren Statements (außer von Lars Bocian, der sich wie oben geschildert schon vor der Akteneinsicht öffentlich zufrieden mit der Akteneinsicht zeigte).
Wie all das zu deuten ist, wird sich vielleicht noch zeigen. In jedem Fall bleiben das Thema und der Umgang damit aktuell.