Haben es Kinder mit Anspruch auf Nachteilsausgleiche künftig noch schwerer, eine gute weiterführende Schule zu finden?
Eine gemeinsame Recherche mit dem „Recherchekollektiv NTA“.

Die Berliner Koalition aus CDU und SPD hat das Schulgesetz in diesem Jahr geändert und die Übergänge von den Grundschulen zu den weiterführenden Schulen neu geregelt. Etliche Verbände sprachen sich aus verschiedensten Gründen gegen die Neuregelung aus (siehe Fußnote am Ende des Textes sowie exemplarisch auch das Gespräch mit dem Vorstand des Landeselternausschusses). Die Koalition ihrerseits verwies in ihrer Argumentation darauf, dass die Fächer Deutsch, Mathematik und die erste Fremdsprache (zumeist Englisch) die wesentlichen „Kernfächer“ seien, um das Abitur am Gymnasium erreichen zu können (Gespräch mit Bildungssenatorin Günther-Wünsch (CDU) hierzu).

Die Neuregelung betraf insbesondere die sogenannten „Förderprognosen“. Diese weisen unter Anderem die Zensuren an den Grundschulen aus und sind wesentlicher Bestandteil der Bewerbung der Kinder an den weiterführenden Schulen. Während der Debatten über die Schulgesetzänderung gab es einen häufigen Bezug auf die Gymnasien und deren vorgetragene Erwartungen an ihre neuen Schülerinnen und Schüler, die Neuregelung trifft aber auch alle Schülerinnen und Schüler, die an eine Integrierte Sekundarschule (ISS) wechseln möchten.

Zeitgleich beschloss die Koalition die Einführung von „verpflichtenden gleichen jahrgangsbezogenen Klassenarbeiten“ in den Klassenstufen fünf und sechs, um eine bessere Vergleichbarkeit der Schülerleistungen im Zusammenhang mit dem Übergang an die weiterführenden Schulen herzustellen. Die Ergebnisse dieser vergleichenden Arbeiten fließen zusammen mit anderen erbrachten Leistungen in die Förderprognosen ein.

Die Regelungen zu diesen vergleichenden Klassenarbeiten liegen seit dem Spätsommer vor, lassen aber befürchten, dass diese nicht nur den Zugang zum Gymnasium zusätzlich „exklusivieren“, sondern auch eine zusätzliche Spaltung der Integrierten Sekundarschulen erzeugen. Konkret geht es um die Frage, ob Kinder mit einem Anspruch auf Nachteilsausgleiche, beispielsweise bei einer Lese-Rechtschreibschwäche, bei einer Rechenschwäche oder Sprachproblemen, diese auch im Rahmen der vergleichenden Arbeiten geltend machen können. Je nachdem, wie die Antwort auf diese Frage ausfällt, hat dies erhebliche Auswirkungen für die betroffenen Kinder.

Nach Bekanntwerden der Neuregelungen stellte ich im Rahmen einer Reihe von Gesprächen fest, dass es unter Grundschulleitungen unterschiedliche Interpretationen bei der  Auslegung der Vorgaben gibt. Im Zuge weiterer Recherchen stellte ich fest, dass auch die Schulaufsichten verschiedener Bezirke zu keiner eindeutigen und gemeinsamen Auslegung kommen, sondern ihrerseits zum Teil noch konkretisierende Informationen der Senatsverwaltung benötigen. In der Konsequenz fragte ich direkt bei der Bildungsverwaltung nach und bat um Auskunft.

Von dort erhielt ich lediglich allgemeine Auskünfte zu Nachteilsausgleichen (und zum Notenschutz), mehrfach unbeantwortet blieb aber insbesondere die Kernfrage, ob Kinder im Rahmen der vergleichenden Arbeiten einen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich haben, oder nicht. Weiterhin blieben die Fragen, ob eine etwaige Nichtberücksichtigung von Nachteilsausgleichen beabsichtigt sei und ob es noch ergänzende Regelungen für die Schulen geben werde, unbeantwortet.

Wären Nachteilsausgleiche nicht zu gewähren, hätten die betreffenden Kinder durch zwangsläufig schlechtere Zensuren absehbar kaum noch Chancen, auf ein Gymnasium zu wechseln, aber auch an den Integrierten Sekundarschulen würde sich ihre Chance auf eine wohnortnahe Schule, oder gar die Wunschschule deutlich verschlechtern.

Der sich in den Förderprognosen ergebende „Zahlenwert“ (vgl. §56 Abs. 3 SchulG) aus den ausgewiesenen Fächern (dessen Durchschnitt häufig und inoffiziell als „Grundschul-NC“ bezeichnet wird) ist für Schulen bei Übernachfrage in der Regel das maßgebende Kriterium für eine Aufnahme oder Ablehnung. Eine Übernachfrage an einer Schule führt in aller Regel dazu, dass dieser „NC“ aufgrund gleich bleibender Platzzahl umso weiter sinkt, je größer die Zahl der sich bewerbenden Kinder ist ist. Beispielsweise ist es im sehr überfüllten Pankow schon schwierig, mit einem „NC“ über 2,0 zuverlässig einen Platz an einer ISS zu bekommen. Nicht gewährte Nachteilsausgleiche würden die betreffenden Kinder also massiv bei der Schulplatzsuche benachteiligen.

Auch in der „Makroperspektive“ wäre dies höchst problematisch. An dem Teil der bereits heute besonders gefragten Integrierten Sekundarschulen würden sich durch die bereits verengte Förderprognose einerseits und die Vergleichsarbeiten andererseits absehbar vor Allem Kinder wiederfinden, die in den Fächern Deutsch und erste Fremdsprache sowie Mathematik gute bis sehr gute Leistungen aufweisen können, weniger Nachteilsausgleiche benötigen und somit vergleichsweise weniger „Differenzierungsbedarfe“ mit sich bringen. Diese Schulen würden sich somit „homogenisierend nach oben“ konsolidieren. Kinder würden durch die Überbetonung von Sprachkompetenzen bei Nichtberücksichtigung von Fähigkeiten in allen weiteren Fächern in der Förderprognose absehbar auch entlang ihrer Herkunftssprache auf verschiedene Schulen segregiert.

Durch die bereits heute bestehenden Unterschiede in der Nachfrage von Schulen würden andererseits Schulgemeinschaften entstehen bzw. noch weiter benachteiligt, an denen sich dann ein Großteil der Schülerinnen und Schüler mit größeren Sprachförderbedarfen, Inklusionsbedarfen, Nachteilsausgleichen und verschiedensten anderen Herausforderungen wiederfände.

Diese Schülerinnen und Schüler benötigen einen differenzierenden Unterricht, für den Lehrkräfte zwar ausgebildet sind, für den aber bereits unter den heutigen Bedingungen häufig die Ressourcen in den betreffenden Schulen nicht im nötigen Umfang vorhanden sind. Dies dürfte absehbar insbesondere Stadtrandlagen wie Neukölln, Spandau und Marzahn-Hellersdorf treffen, die bereits heute mit einem Mix aus herausfordernden Schulgemeinschaften einerseits und Personalgewinnungsproblemen andererseits kämpfen.

 

Wie das? Ein Blick in die Fachbriefe.

Die Bildungsverwaltung hat die Durchführung der vergleichenden Klassenarbeiten per so genannter „Fachbriefe“ geregelt und zum neuen Schuljahr neue Fachbriefe für die Fächer Deutsch und Mathematik an den Grundschulen herausgegeben.

Im Fachbrief Mathematik wird formuliert:

„Die zentralen Kompetenzanforderungen für die gl KA in 5.2 und in 6.1 sollten innerhalb der Niveaustufe D liegen und an alle Lernenden einer Jahrgangsstufe – mit Ausnahme von Lernenden, die aufgrund eines festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht zielgleich unterrichtet werden – sollten dieselben verbindlichen Kompetenzanforderungen gestellt werden.“

Im Fachbrief Deutsch wird formuliert:

„Bei der Konzeption der gl KA ist darauf zu achten, dass die zentralen Kompetenzanforderungen für beide Jahrgangsstufen bereits deutlich durch die Standards der Niveaustufe D abgedeckt werden und an alle Lernenden einer Jahrgangsstufe – mit Ausnahme von Lernenden, die aufgrund eines festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht zielgleich unterrichtet werden – dieselben verbindlichen Kompetenzanforderungen stellen.“

Das bedeutet, dass für alle Schülerinnen und Schüler mit Ausnahme derjenigen, die einen Förderbedarf „Lernen“ oder einen Förderbedarf „geistige Entwicklung“ (diese beiden Förderbedarfe werden nicht zielgleich unterrichtet) zuerkannt bekommen haben, die gleichen Kompetenzanforderungen gestellt werden.

Es wird in den Fachbriefen gefordert, den Unterricht, der auf die vergleichenden Klassenarbeiten vorbereitet, differenziert und abgestimmt mit den Kompetenzen der jeweiligen Schülerinnen und Schüler anzubieten. Für die eigentliche Durchführung der Arbeiten wird eine solche Differenzierung in den Fachbriefen nicht eingefordert.

An dieser Stelle gibt es seitens der von mir befragten Schulleitungen unterschiedliche Lesarten: die Einen gehen davon aus, dass der §20 Abs. 7 der Grundschulverordnung des Landes Berlin, der die Anwendung von Nachteilsausgleichen regelt, auch auf die vergleichenden Arbeiten anzuwenden ist.

Andere sehen die Grundschulverordnung vom Fachbrief nicht berührt, da die Fachbriefe explizit formulieren, dass an alle die gleichen Kompetenzanforderungen zu stellen sind. In dieser Lesart dürften die Nachteilsausgleiche also nicht berücksichtigt werden. Diese Unklarheit sollte dringend beseitigt werden.

Erschwerend bei der Bewertung kommt hinzu, dass der Fachbrief Deutsch und der Fachbrief Mathematik in dieser Frage nicht deckungsgleich sind. Während der Fachbrief Mathematik vorgibt, dass „dieselben verbindlichen Kompetenzanforderungen gestellt werden […] sollten„, was eine Flexibilität zumindest nicht kategorisch ausschließt, formuliert der Fachbrief Deutsch sehr eindeutig „Bei der Konzeption der gl KA ist darauf zu achten, dass die zentralen Kompetenzanforderungen für beide Jahrgangsstufen […] dieselben verbindlichen Kompetenzanforderungen stellen.

Dass Schulleitungen und Schulaufsichten im Stadtgebiet in dieser relevanten Frage zu unterschiedlichen Bewertungen kommen und die Bildungsverwaltung keine klare Beantwortung vornimmt, wirft weitere Fragen auf.

Hinzu kommt, dass die übrige Konzeption der Vergleichsarbeiten schon im Grundsatz die eigentliche Idee der Vergleichsarbeiten infrage stellt, da die Vergleichsarbeiten nicht zentral, sondern in jeder Schule gesondert erstellt werden. Die weiterführenden Schulen sind nicht wohnortgebunden. Für Schülerinnen und Schüler, die weiterführende Schulen besuchen, gilt die gesamte Stadt als Einzugsgebiet. Insofern kann es  passieren, dass siebte Klassen gebildet werden, in denen jedes Kind aus einer anderen Grundschule kommt. 26 Kinder einer (fiktiven) neuen siebten Klasse hätten dann also vorher möglicherweise 26 verschiedene „verpflichtende gleiche jahrgangsbezogene Klassenarbeiten“ geschrieben.

Welchen vergleichenden Effekt soll eine solche Arbeit unter diesen Voraussetzungen haben?

Die derzeitige Regelung überantwortet die Erstellung der Klassenarbeiten zumindest vorerst jeder einzelnen Grundschule. Damit gibt es zwar Vergleichbarkeiten innerhalb der Jahrgänge der einzelnen Schulen und überschulisch vorgegebene Orientierungen am Kompetenzniveau D, aber keine Gleichheit über die Schulen hinweg. Eine mit der Erstellung der in Rede stehenden Vergleichsarbeiten betraute Mathematik-Lehrkraft erklärte mir zusätzlich  dass das „Kompetenzniveau D“ als Vorgabe so viel „Spielraum“ beinhaltet, dass in den Schulen Klassenarbeiten entstehen können, die überschulisch dennoch nur bedingte Vergleichbarkeiten ermöglichen.

Auch die Evaluation der vergleichenden Arbeiten dürfte mit den derzeitigen Regelungen vorerst bei den einzelnen Grundschulen bleiben. Den Schulen wurde per Fachbrief die Möglichkeit eröffnet, die Klassenarbeit innerhalb ihrer jeweiligen Bezirke in so genannten Regionalkonferenzen schulübergreifend gemeinsam zu konzipieren. Hierbei handelt es sich jedoch um eine Möglichkeit und nicht um eine Weisung und wird nach meinen Recherchen nur in einem Teil der Berliner Bezirke so gehandhabt.

Auch bleibt unklar, ob die vergleichenden Klassenarbeiten reguläre Klassenarbeiten ersetzen können. Auch hierzu gibt es in Schulen unterschiedliche Interpretationen der Weisungslage (jenseits der Fachbriefe), was Probleme nach sich ziehen kann:

Sofern die Schülerinnen und Schüler innerhalb der für die Förderprognose relevanten zwei Halbjahre (5.2 und 6.1) die jeweils zwei Arbeiten pro Fach zusätzlich schreiben müssen, ergäbe sich ein Aufwand von 6 statt 4 Klassenarbeiten im Schuljahr (4 reguläre und 2 vergleichende). Würden die vergleichenden Arbeiten auf die regulären Klassenarbeiten „angerechnet“, würde die Zahl bei 4 bleiben, dies würde aber ein weiteres Problem nach sich ziehen:

Duch eine Nichtberücksichtigung von Nachteilsausgleichen würde sich der Notenschnitt wie beschrieben bei den betroffenen Schülern absehbar verschlechtern. Bei 6 Klassenarbeiten beträfe der Anteil an Klassenarbeiten, für die ein Nachteilsausgleich nicht gewährt wird, ein Drittel (2 von 6). Würde man die vergleichenden Arbeiten „anrechnen“ würde sich dieser Anteil auf die Hälfte vergrößern (2 von 4). Es wäre also eine Abwägung zwischen einer höheren Beanspruchung der Schülerinnen und Schüler mit Klassenarbeiten (6 Klassenarbeiten im Jahr pro Fach sind eine erhebliche Belastung) oder einer höheren Benachteiligung von Kindern mit einem (eigentlichen) Anspruch auf Nachteilsausgleiche.

 

Fazit

Sollten die Nachteilsausgleiche im Rahmen der vergleichenden Arbeiten nicht berücksichtigt werden, muss dringend eine Debatte darüber geführt werden, wo die Regelungshoheit einer Verwaltung enden und das Parlament politisch befragt werden muss.

Eine Aussetzung der Nachteilsausgleiche in Kombination mit den veränderten Förderprognosen und der bereits heute bestehenden unterschiedlichen Nachfrage von Schulen würde Realitäten schaffen, die wohl einer faktischen Rückabwicklung der Schulstrukturreform unter dem früheren SPD-Senator Zöllner gleichkäme. Dies nur eben nicht durch die Wiederenführung der Hauptschulen, sondern durch die faktisch entstehende Aufgliederung der ISSen entlang der bestehenden und hinzu kommenden Segregationslogiken. Dies wäre auch ein deutlicher Rückschritt für die Inklusion, um die es im Berliner Bildungswesen ohnehin schon nicht gut bestellt ist.

Weder hilft es, wenn manche ISSen noch mehr zu „Ersatzgymnasien“ konsolidiert werden, noch hilft es, weitere „Problemschulen“ zu produzieren. „Rette sein Kind in diesem System, wer kann“ erleben Eltern (und damit auch die Kinder) schon heute zulasten aller oft genug.

In jedem Fall sollte die Bildungsverwaltung Klarheiten gegenüber den Schulen schaffen und das Verfahren eindeutig und unmissverständlich regeln.

Fußnote:

Für die Schulgesetzänderung sprachen sich aus:

Die Schulgesetzänderung sahen kritisch, forderten Änderungen und/oder lehnten ab: