In dem Ostdeutschen Milleu, dem ich entstamme und das mich geprägt hat, gibt es einen Satz, der mir immer wieder begegnet ist:

„Stell Dir mal vor, jeder würde machen, was er will.“

Dieser Satz ist angstbeladen gemeint. Es geht um Kontrollverlust und auch um die Angst, sich selbst nicht erkennen zu können. Das Erziehungswesen der DDR hat deren Einwohnerinnen und Einwohner von frühauf dahin gehend geprägt, dass es kein „Ich“ geben kann und darf, das leztlich nicht im „Wir“ aufgeht. Es gab einen enormen, oft subtil, häufig weniger subtil und mitunter mit Gewalt ausgeübten Konformitätsdruck, der bei vielen bis heute nachwirkt und der auch für meine Generation, die verhältnismäßig kurz vor dem Mauerfall geboren wurde und ihre Kindheit in den 1990ern in den „neuen Ländern“ erlebt hat, spürbar ist und war (Lesetipp: Anne Rabe, „Die Möglichkeit von Glück“).

Die Folge ist, dass es für viele Ostdeutsche bis heute kein „Ich“ geben kann, dass sich nicht in vermeintlicher Übereinstimmung mit einem imaginären „Ostdeutschen Wir“, oder gar in teilweiser Abgrenzung zu diesem befindet. Dieser Umstand ist aus meiner Sicht einer der Gründe für die bis heute gepflegte „Ostalgie“, die einerseits nostalgische, allzu menschliche Bedürfnisse bedient, aber auch durch völlige Trivialisierung und Verkürzung Gemeinschaftsgefühle an dem Punkt schafft, an dem es eine Auseinandersetzung mit der eigenen, auch der familiären DDR-Geschichte und der eigenen Prägung und Denkmuster bräuchte.

Menschlich finde ich es in einer Gesellschaft, die eine derartige Transformation hinter sich hat, nachvollziehbar, dass man versucht, sich auf (vermeintlich) Gemeinsames zu besinnen. Andererseits kommen wir so nie über den Punkt hinaus, an dem man sich (in größeren Runden) darauf einigt, dass Pittiplatsch niedlich war, Reinhard Lakomy schöne Lieder geschrieben hat und „wir“ (ich meine an dieser Stelle insbesondere die Generation der in den 1950ern und 1960ern Geborenen) früher mal jünger waren und eine schöne Jugend hatten (die aber nicht stattfand, weil es die DDR gab, sondern weil „wir“ früher jung waren).

Die andere Seite der Medaille dessen ist, dass dieses „künstliche Erzeugen“ von „Ostdeutscher Gemeinschaft“ einen starken Konformitätsdruck erzeugt, der auch heute noch nachwirkt. Viele aus meiner Generation der in den 1980ern Geborenen sind vor Ebendiesem in die großen Städte Leipzig und Berlin, oder gleich gänzlich in den „Westen“ geflohen. Es war einfach zu eng, oft viel zu eng.

Dass man diesen „Stell Dir mal vor…“-Satz auch sehr positiv, sogar als Versprechen, verstehen kann, was ich mittlerweile auch mache, ist mir erst in meinen späten 20ern bewusst geworden. Auch seitdem erlebe ich insbesondere Berlin als meine Geburts- und Lebensstadt in der Vielfalt der Menschen und Möglichkeiten die sie bietet, nochmal anders. Diese beschriebene Piefigkeit der ostdeutschen Nachwendegesellschaft findet sich auch in Berliner Millieus, aber es gibt noch Vieles darüber hinaus. Berlin ist insofern für mich nicht nur Wohn- und Lebensort, sondern auch ein anstrengendes, nicht selten zumutendes, aber auch schönes und nötiges Kontrastprogramm zum oben Beschriebenen.

Der 03. Oktober

Den Titel „Tag der Deutschen Einheit“ für den 03. Oktober fand ich in der „staatsrechtlichen“ Beschreibung immer zutreffend, ist er nunmal der Tag, an dem zwei deutsche Staaten zusammengelegt wurden. In der gesellschaftlichen Zuschreibung war er mir immer drei Nummern zu groß und in seiner Selbstannahme zu abgeschlossen. Für mich ist der 03. Oktober der Grund, aus dem meine Oma und ihre Brüder, die Jahrzehntelang durch die Mauer getrennt waren, sich wiedersehen konnten und der Grund, aus dem ich heute überall in Berlin unterwegs sein kann. Er ist der Grund, aus dem ich das Berliner Schulwesen heute aus voller Überzeugung öffentlich kritisieren, Vorschläge unterbreiten und Gesprächstermine mit Amts- und Mandatsträgern (beispielsweise für meinen Podcast) machen kann, auch, um ihnen ggf. zu sagen, dass ich vielleicht auch falsch finde, was sie tun. All das hätte man in der DDR mal probieren sollen…

Der 03. Oktober ist der Grund, warum es „mein“ Berlin und meine eigene Rolle darin heute so geben kann. Das ist meine persönliche Verbindung zu diesem Tag.

Politisch wäre mir eine Würdigung des 04. Novembers in Erinnerung an die Großdemonstration am Alexanderplatz lieber gewesen, weil sie eine andere Erzählung aufgemacht und ermöglicht hätte. Es wäre keine Erzählung der Zusammenlegung geworden, wie bei einem Notartermin, sondern eine der „Subjektwerdung“ von Menschen, denen gerade eine Diktatur „unterm Hintern“ zusammengebrochen ist. Ein Tag der Selbsterkennung und Selbstermächtigung im Konstruktiven.

Die mit dem 03. Oktober verbundene Erzählung von gesellschaftlicher Freiheit findet sich für mich, wie beschrieben, in meiner Berliner Lebensrealität wieder. Ich betone „Berliner Lebensrealität“ deshalb, weil mir bewusst ist, dass es nicht nur in Ostdeutschland immer eine Piefigkeit und einen Hang zum Autoritären und Normativen gab, von dem man sich in Berlin ein Stück weit abgrenzen kann, sondern auch im „Westen“. Es gibt auch von der Erzählung „Du bist für Dich selbst verantwortlich“ eine autoritäre Variante, die freiheitsbeschneidend ist und die greift aktuell stärker, als ich es bisher erlebt habe.

Der 03. Oktober 2024

Wir sind am 03. Oktober 2024 auf dem Papier eine freie Gesellschaft mit dem Recht auf Schutz der Menschenwürde und dem Recht auf Selbstentfaltung. Diese Freiheiten und der staatliche Schutz der Menschenwürde enden aber ziemlich schnell. Beispielsweise, wenn man arm ist, nicht von hier kommt, krank oder alt oder vieles Andere ist, was einen davon ausschließt, seinen Lebensunterhalt und/oder Alltag komplett selbst zu bestreiten, oder so auszusehen, als ob die eigene Familie nicht bereits seit 500 Jahren in Deutschland lebt.

Wir sind eine Gesellschaft, in der Ehrenamtliche immer mehr Aufgaben tragen müssen, die der Staat übernehmen müsste. Wir sind 2024 eine Gesellschaft, in der sich einerseits obszöne Milliardenvermögen bei Einzelnen konzentrieren, wir aber gleichzeitig ehrenamtliche „Tafeln“ unterhalten, weil diese Gesellschaft und ihr Staat Menschen fallen lassen. Gleichzeitig wird der öffentliche Diskurs immer rauher und unnachgiebiger. Und je größer die soziale Schieflage wird, desto lauter wird auch aus dem politischen Raum gebrüllt „Jetzt selbstverwirklicht euch gefälligst.“ Das ist die autoritäre Variante eines Freiheitsbegriffs, der sich gerade in sein Gegenteil verkehrt.

Und je mehr die soziale Schieflage thematisiert wird, desto mehr werden benachteiligte Gruppen gegeneinander in Stellung gebracht. Wer Vermögenskonzentrationen bei Einzelnen und die damit auch verbundene Machtkonzentration kritisiert, wird mit „Neid“vorwürfen konfrontiert. Je größer die sozialen Unterschiede werden, desto mehr versuchen etliche politisch Verantwortliche, ihr Programm auf eine imaginierte „Gesellschaftliche Mitte“ maßzuschneidern und die Leute mit Identitätsdebatten zu nerven. Das ist eine Art der Debattenführung, die letztlich vor Allem ausschließt, weil sie zahllose Lebensrealitäten in diesem Land ausblendet, an den Rand drängt und damit herabwürdigt. Dieser „Mitte-Diskurs“ erzeugt zudem einen Konformitätsdruck, der für alle belastend ist. Für die Einen, weil sie nicht dazugehören und sämtliche Arten von Ausgrenzung und diffamierung erleben (Beispielsweise Bürgergeldempfänger:innen) und für die anderen, die zu dieser imaginären Mitte dazugehören, weil sie ihren Status bewahren müssen, denn sie sehen, wie man mit Leuten umgeht, die nicht dazugehören.

Ich finde das zutiefst abstoßend.

Auch deshalb bin ich am 03. Oktober 2024 so gespalten bezüglich dieses Tages, wie noch nie. Ab dem 09. November 1989 haben „wir“ die Mauer abgerissen. Mittlerweile haben wir etliche neue Mauern errichtet, aber diesmal in unseren Köpfen und im sozialen Miteinander.

Es gibt keine Ost-West-Differenz, die sich nicht überbrücken ließe. Die wirkliche Spaltung verläuft da, wo Menschen kein Interesse mehr an den Lebensrealitäten ihrer Mitmenschen, am Schutz der Würde des Anderen und am Ausgleich um des sozialen und gesellschaftlichen Friedens Willen haben. Die Spaltung entsteht da, wo Menschen ihr persönlicher und gesellschaftlicher Handlungsspielraum genommen wird. Der Osten ist nicht anders, er ist dem Westen „nur“ ein paar Jahre voraus. Die gleichen Umfragewerte einer rechtsextremen Partei, die wir vor 5 Jahren in Ostdeutschland als „entsetzlich“ verurteilt haben, haben wir jetzt auch in westdeutschen Bundesländern und im Bund. Wir bewegen uns straff auf ein autoritäres und illiberales Staatswesen zu und die demokratischen Parteien machen dabei fleißig selbst mit.

Miteinander und Versöhnung

…sind dringend nötig. Miteinander und Versöhnung entstehen da, wo Miteinander und Versöhnung gestiftet und die nötigen Ressourcen bereitgestellt werden. Dort, wo es gesellschaftliche Begegnungsorte gibt die nicht voraussetzen, dass man eingeladen wurde, oder Geld mitbringt.

Der „Tag der Deutschen Einheit“ sollte ein Anlass sein, all diejenigen zu würdigen, die sich heute für gesellschaftliches Miteinander einsetzen und die andere Leute dabei nicht für ihre Lebensrealitäten verurteilen. Und ein Auftrag für diejenigen, die heute wieder salbungsvolle Reden halten werden, die erste Gruppe nach allen Kräften zu unterstützen. Ein Auftrag für selbige, mal wieder regelmäßig unter Leute zu gehen, die damit ausgelastet sind, ihren Lebensalltag auf die Kette zu bekommen und allenfalls am Rand zur Selbstverwirklichung kommen. Das gibt einen ganz anderen Blick auf die Dinge.

Vielleicht kommen wir dann irgendwann an einen Punkt, an dem jede und jeder im besten Sinne machen kann, was er oder sie will, weil alle die dafür nötigen Bedingungen vorfinden und deshalb keine Angst davor haben müssen. Das wärs. Einen schönen dritten Oktober beisammen.