Sehr geehrte Frau Reichinnek, sehr geehrte Herren Scholz, Merz, Habeck, Dobrindt und van Aken,

mein Name ist Marco Fechner, ich bin Familienvater und ich mache mir Sorgen.

Ich schreibe Sie an, weil ich Ihnen unterstelle und unterstellen möchte, dass Sie ein Interesse an einem liberalen, demokratischen und friedlichen Deutschland in einem geeinten Europa haben.

Die Art und Weise der Wahlkampfführung sowie die Themensetzungen des Wahlkampfs bereiten mir gewaltiges Unbehagen. Ich möchte Ihnen und mir Anekdoten vom familiären Abendbrottisch und von der kollegialen Mittagsrunde ersparen, aber nur so viel:

in diesen Gesprächen geht es nicht um die Frage, ob wir es syrischen Kindern „rechtssicher“ oder „aus Überzeugung“ schwerer machen sollten, ihren Angehörigen nach Deutschland zu folgen, oder in welchem Tempo wir Menschen aus diesem Land werfen sollten.

Die Themen sind Andere. Ein unvollständiger Auszug:

  • Wie können wir die sozialen Sicherungssysteme angesichts der Demografie erhalten?
  • Wie kann der Frieden in Europa bewahrt werden, wenn immer mehr Staaten nationalistisch und autoritär geführt werden?
  • Was soll die Rolle der kommenden Bundesregierung dabei sein und welche Rolle(n) muss die Zivilgesellschaft ausfüllen?
  • Wie wollen Sie die Zivilgesellschaft dabei unterstützen?
  • Wie können wir unsere Demokratie vor autokratisch motivierten Übergriffen von innen und außen schützen?
  • Wie wappnen wir uns vor den Folgen der Klimaerwärmung?
  • Wie bewältigen wir die mit der Demographiekrise einhergehende Arbeits- und Fachkräftekrise?
  • Wie soll das Bildungswesen auf Vordermann gebracht werden, so dass nicht mehr jährlich tausende Jugendliche direkt von der Schule in die sozialen Sicherungssysteme abgleiten und dort allzu häufig nicht mehr herausfinden?
  • Wie machen wir Kinder und Jugendliche fit für gesellschaftliche und demokratische Beteiligung?
  • Wie soll insbesondere Kinderarmut bekämpft werden, die eine Vielzahl von Folgeproblemen verursacht?
  • Wie können wir die Rechte von Kindern und Jugendlichen wahren, wenn heute schon 40% der Wahlberechtigten älter als 60 Jahre sind?

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Keines dieser Probleme werden wir dadurch lösen, dass wir noch repressiver mit Geflüchteten, Armutsbetroffenen und queeren Menschen umgehen, oder indem wir diese Themen schlichtweg ignorieren. Diese Themen werden uns in den kommenden 4 Jahren massiv beschäftigen (müssen) und sie werden Weichenstellungen einfordern. Für diese braucht es dann gesellschaftliche Mehrheiten und Akzeptanz, wenn die Stimmung nicht noch aggressiver, sondern wieder besser werden soll.

Die nicht anzutastende Menschenwürde ist in diesem Land bereits seit Langem angetastet und Ihre Parteien sind hierfür mitverantwortlich.

Als Mitglieder des Bundestages und/oder der Bundesregierung haben Sie Zugang zu sämtlichen behördlichen Statistiken und Verantwortungsträgern. Sie wissen, dass wir unser Fachkräfteproblem nicht lösen, indem noch mehr Druck auf Armutsbetroffene ausgeübt wird. Sie wissen, dass Fluchtbewegungen nicht enden, wenn man die Grenzen hochzieht. Sie alle sind hinreichend allgemeingebildet, um zu wissen, dass Nationalismus und Abschottung in Europa nie zu etwas Gutem geführt haben.

Als Bürger bin ich mehr als befremdet über die Wahlkampfführung. Ich wünsche mir Unterscheidbarkeit zwischen den Parteien, aber ich möchte nicht, dass zwischen demokratischen Parteien so viel Porzellan zerschlagen wird, dass man sich fragen muss, wie nach der Wahl belastbare demokratische Mehrheiten gefunden werden sollen.

Ich möchte keine Zweifel an der menschenrechtlichen und demokratischen Integrität von Parteien in ihrer Abgrenzung zu Extremisten haben müssen. Ich bin befremdet davon, dass sich ehemalige Volksparteien mit heute noch 15 bis 30% Zustimmung gerieren, als wären sie noch die 40%-Parteien der 50er bis 90er Jahre. Diese Zeiten sind vorbei.

Ich bin befremdet darüber, wenn führende Politiker:innen ihre öffentliche Inszenierung allzu häufig mit Klamauk verwechseln und/oder sich für Food-Influencer halten. Volksnähe zu demonstrieren ist das Eine. Klamauk, der Zweifel an der Ernsthaftigkeit der politischen Arbeit entstehen lässt, ist das Andere und er bringt auch hunderttausende in Verruf, die sich auf kommunaler Ebene ehrenamtlich politisch engagieren und die dort auch gebraucht werden.

Eine ausdifferenzierte Gesellschaft führt zu einem ausdifferenzierten Parteiensystem. Ich wünsche mir zwar Unterscheidbarkeit, aber auch keine Schaumschlägerei. Ich wünsche mir – und das ist auch dringend nötig -, dass Parteien Brücken zwischen sich und ihren Wählermillieus bauen.

Eine Gesellschaft und eine politische Landschaft muss sich nicht einig sein, aber sie muss gesprächsfähig sein und bleiben. Sie als Spitzenkandidierende und Ihre Parteien haben dafür eine erhebliche Mitverantwortung.

Am zurückliegenden Wochenende habe ich an der Großdemonstration vor dem Reichstagsgebäude in Berlin teilgenommen. Ich traf dort Menschen aus sämtlichen Altersgruppen und nach meinem Eindruck auch unterschiedlichsten Lebensrealitäten, die sich Sorgen um diese Gesellschaft machen und diese Sorge friedlich auf die Straße getragen haben. Die jüngste Demonstration war eine der in ihrer Grundstimmung nachdenklichsten, die ich bisher persönlich erlebt habe. Diese Menschen haben Sorgen. Die Einen, weil sie gern noch eine lebenswerte Zukunft hätten (weil sie die Probleme nicht verdrängen, sondern gern gemeinsam lösen möchten), die Anderen, weil sie noch aus eigenem Erleben wissen, wie schlimm autoritäre Regime sind. Ich persönlich bin für meine Kinder auf die Straße gegangen.

Es empört mich, wenn diese Hunderttausenden pauschal als „Linksextremisten“ diffamiert werden. Es empört mich, wenn die Demonstration als Kulisse für Selfies missbraucht wird, ohne, dass der Teilnahme Konsequenzen im Bundestag und im Wahlkampf folgen. Es empört mich, wenn die Debatte in den Tagen danach wieder nur zwischen „Wir schieben rechtssicher ab“ und „Wir schieben mit Nachdruck ab Tag eins ab“ verläuft. Die eigentlichen Themen sind andere.

Bitte machen Sie es besser! Sie hätten hierfür eine engagierte Zivilgesellschaft an Ihrer Seite. Reichen Sie dieser die Hände und binden Sie diese ein. Machen Sie Vorschläge zu den oben genannten Themen. Diese bieten mehr als genug thematischen Raum für einen Wahlkampf, der Ihre Unterscheidbarkeit deutlich macht. Zeigen Sie, dass Sie das, was an Herausforderungen auf uns alle zukommen wird, ernst nehmen und machen Sie Vorschläge, die die Menschen nicht gegeneinander aufbringen.

Mit freundlichen Grüßen

Marco Fechner