In seinem Kinderbuch „Großer Panda und kleiner Drache“ beschreibt der Autor James Norbury in einer Szene, wie Panda und Drache spazierengehen und der Panda seinen Kompagnon fragt, ob der Weg oder das Ziel wichtiger sei. Die Antwort des Drachen: „Deine Weggefährten“.

Diese Stelle ist unfreiwillig auch die Antwort auf die Frage, was meine Heimatstadt Berlin so lebens- und auch liebenswert macht: die vielen und vielfältigsten Menschen, die hier leben und denen man begegnen kann, sobald man das Haus verlässt.

Diese Stadt ist seit ihrer Gründung auf der Spreeinsel im Jahr 1237 ein Schmelztiegel für unterschiedlichste soziale Millieus und Menschen aus den verschiedensten Kulturen dieses Landes und Europas und später der ganzen Welt. Dadurch war sie schon immer ein Ort, an dem Neues folgerichtigerweise entstehen musste.

Selbst das Berlinische ist ein Ergebnis dieses Zusammenkommens und deshalb sprachwissenschaftlich auch kein Dialekt, sondern ein Metrolekt, also das Ergebnis der Integration verschiedenster Sprachen, Dialekte und subkultureller Sprachschöpfungen.

„Gesellschaftliche Subkultur“ ist in dieser Stadt nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Berlin ist ein Ort, an dem das Zusammenleben ein ständiges Lernen und Kennenlernen ist. Von außen bekommt Berlin deshalb häufig die Zuschreibung, es sei „immer etwas drüber“. Ich sehe es komplett gegenteilig: es ermöglicht das Ankommen, weil man sich im Austausch mit vielen anderen immer auch selbst etwas besser kennenlernt.

Neben dieser Vielfalt kann diese Stadt, vermutlich befördert durch ihre dezentrale Struktur (es gibt kein Zentrum, sondern mehrere Subzentren und zahllose Kieze), mitunter unfassbar provinziell sein und es ist tatsächlich möglich, sich innerhalb (s)eines Millieus komplett abzugrenzen, während im Nachbarortsteil „der Bär steppt“.

Dass dieser scheinbare Widerspruch zwischen der Dynamik verschiedenster sozialer Klassen, Internationalität und Multikulturalität einerseits und Provinzialismus andererseits nicht zum Auseinanderfallen dieser Stadt (obwohl sie schon mehrmals auf dem Weg dahin war), sondern zu ihrer einmaligen Lebensqualität beigetragen hat: man kann wie beschrieben zwar in seinem Kiez bleiben (auch lebenslang, wenn man das möchte), muss/darf aber damit rechnen, überrascht zu werden, sobald man diesen verlässt. Ein anderer Aspekt: diese Stadt bot immer Freiräume, in denen es möglich war, sich selbst zu erfinden, ohne dabei anderen die eigene Lebensweise aufdrücken zu müssen.

Das war beispielsweise in den 1990ern möglich, als diese Stadt sehr viel bezahlbaren Wohnraum und ungeklärte Eigentumsverhältnisse bot, in denen sich eine Kreativszene ausbreiten konnte, um die uns die Welt bis heute bewundert.

Das war beispielsweise auch möglich, als die Hugenotten im siebzehnten Jahrhundert an die Spree kamen, nachdem ihnen Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg mit dem „Edikt von Potsdam“ umfangreiche Privilegien anbot und diese Stadt gezielt weiterentwickelte.

Der Reichtum dieser Stadt basiert auf den unterschiedlichsten Millieus und Kulturen ihrer Einwohner, aber auch auf der Erkenntnis, dass Freiräume und auch Begegnungsorte für alle gebraucht werden und gegebenenfalls auch gemeinschaftlich und/oder staatlich geschaffen werden müssen. Manche bezeichnen das als „Gratismentalität“. Ich persönlich würde das eher „Einsicht in Notwendigkeiten“ nennen und dieser Einsicht hat diese Stadt erkennbar viel zu verdanken.

Was sich mit dem aktuellen Landeshaushalt aber abzeichnet, ist das krasse Gegenteil dessen. Die Sparlisten des Senats wurden in den vergangen Wochen rauf und runter diskutiert und sie lassen sich nicht anders, denn als „Desaster mit Ansage“ bezeichnen.

Dass der Staat entscheidet, weniger Geld auszugeben, während gleichzeitig auch Privathaushalte und Unternehmen ihre Ausgaben zurückfahren, ist eine der absurden, wie verhängnisvollen Wirkweisen der „Schuldenbremse“. Im Gegensatz zu den Lebensqualitäten dieser Stadt beneiden uns viele Länder um dieses Instrument nicht, sondern sie wird von vielen Wirtschaftsforschern und Institutionen aufgrund des volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schadens, den sie anrichtet, kritisiert.

Sie ist kein Garant für ein gutes Leben künftiger Generationen, sondern im Moment vor Allem ein Vergehen an den jetzigen Generationen, die nicht genug Schulen, Begegnungsorte, soziale Einrichtungen und Hilfsangebote, bezahlbaren Wohnraum, brauchbare (digitale) Infrastruktur etc. vorfinden. Insbesondere eine Stadt, in der ein Viertel der Kinder sowie deren Familien in Armut leben, braucht öffentliche Orte und gemeinschaftliche Angebote.

Eine Stadt, deren Bildungswesen in dem Zustand ist, in dem es bekanntlich feststeckt, braucht bessere Schulen, mehr und qualifiziertes Personal und die Einsicht, dass Bildung mehr ist, als das Abarbeiten von Stundentafeln. Dass Bildung auch ein sozialer Prozess ist, der Begleitung und Unterstützung braucht. Und damit auch Geld. Wer an diesen Stellen kürzt, kürzt bei den Schwächsten und schwächt damit die Stadt in Gänze.

Die Haushaltslage ist spätestens seit dem Berliner Bankenskandal von 2001 ein gewaltiges und nachhaltiges Problem. Insofern lässt sich das Problem nicht allein auf die Schuldenbremse reduzieren, aber die Aussage von Finanzsenator Evers (CDU)

„Berlin kann, Berlin muss und Berlin wird mit weniger Geld gut funktionieren und das vielleicht sogar besser.“

vom Juni diesen Jahres ist angesichts der vielen Sparhaushalte der vergangenen 23 Jahre und des Zustands der Infrastruktur dieser Stadt schlichtweg ein Hohn. Es fühlt sich an, als würde man einem Patienten, der unterernährt in eine Klinik eingewiesen wird, erklären, dass man ihm seine Mahlzeiten nur reduziert anbietet, es ihm aber natürlich frei steht, diese Mahlzeiten dann einfach besser zu verwerten.

Als Bürger empfinde ich die Argumentationen der Koalition genauso wie das Zustandekommen dieses Haushaltsplans als Zumutung. Es war seit Amtsantritt der Koalition 2023 bekannt, dass der Haushalt zu groß ist, da absehbar war, dass die Steuereinnahmen niedriger ausfallen werden, als bis dahin erwartet.

Statt diesem Problem umgehend gerecht zu werden und diese Fehlbeträge von Beginn an in die Kalkulation einzubeziehen, oder die Einnahmensituation zu verbessern, ließ die Koalition rund eineinhalb Jahre verstreichen und muss jetzt mitten im Doppelhaushaltsjahr Gesamteinsparungen im Volumen von 3 Milliarden Euro vornehmen.

Faktisch läuft das auf eine Streichung vieler Angebote und ein Zerschlagen von Infrastruktur hinaus. Wie in den vergangenen Wochen vielseitig dargestellt wurde, fand die Einigung auf der Ebene der Fraktionsspitzen statt. Die übrigen Mitglieder der Fraktionen, aber auch die meisten Senatsmitglieder wurden offenkundig in eine Beobachterrolle gedrängt und jetzt will sich niemand jenseits der Fraktionsspitzen verantwortlich fühlen.

Der Fraktionsvorsitzende der CDU indes lobte die Zusammenarbeit bei der Zusammenstellung der Streichungen, weil man das besonders professionell in der Zusammenarbeit hinbekommen hätte und weil man da Streichungen in einem Volumen verabredet hätte, an dem andere Koalitionen zerbrochen wären. Er klang für mich nicht, als ob ihm bewusst wäre, was die Koalition da mit der Stadt anstellt, sondern in dem vorgetragenen Stolz auf diese „Leistung“ schlichtweg schamlos.

Im wohlwollendsten Falle könnte man feststellen, dass diese Stadt von Bürokraten regiert wird, die zwar wissen, dass Politik bei der Betrachtung der Wirklichkeit anfängt, die aber vergessen, dass Politik auch bedeutet, Wirklichkeiten aktiv und zum Positiven zu gestalten und die Gesellschaft als Ganzes und in ihrer Vielfalt im Blick zu behalten.

Die Fraktionsspitzen kürzen, weil man das halt tun müsse, der Finanzsenator beschönigt die Lage, die Fraktionsmitglieder warten auf Anweisungen, als wären sie keine Parlamentarier mit freiem Mandat und der Senat wartet auf die Entscheidungen des Parlaments.

Der Kultursenator indes tut das, was er als Musikmanager vermutlich schon getan hat: er stellt offenbar alles zur Disposition, was nicht aus sich heraus nach seinen Maßstäbden genug Gewinn abwirft. Er versteht offenbar nicht, dass der Job eines Kultursenators eine andere Aufgabenbeschreibung hat, als der eines Musikverlegers und das ein städtisches Kulturangebot kein Taylor-Swift-Album ist.

Sicher ist aber vermeintlich eines: die Vorgängerregierung ist Schuld, weil die den Haushalt aufgestellt hat, den die jetzige Koalition nicht rechtzeitig angepasst hat. Der demokratische Teil der Opposition, also Teile der Vorgängerregierung, indes bleibt strukturelle Antworten auf diese Misere ebenfalls weitgehend schuldig, ist sich aber einig, dass der jetzige Senat früher hätte handeln müssen. Der extremistische Teil der Opposition findet wie immer, dass die Ausländer schuld an allem sind.

Währenddessen entlassen Träger in der Vorweihnachtszeit ihre Mitarbeiter und streichen Angebote. Währenddessen geht die Kulturszene auf die Straße, weil sie die Schließung von Bühnen, Jobs und somit das Ende von Kulturangeboten fürchtet. Währenddessen sorgen sich Schulen um den dringend nötigen Aufwuchs bei der Schulsozialarbeit, oder um notwendige Weiterbildungsangebote für ihre Lehrkräfte. Währenddessen fühlen sich die Schülerinnen und Schüler von den Hausforderungen der Gegenwart psychisch unter Druck gesetzt, wie lange keine Schülergeneration mehr. Eigentlich bräuchte es dringend mehr Angebote, Begleitung und offene Ohren und nicht weniger.

Stattdessen bringt der Senat die einzelnen Akteure gegeneinander in Stellung. Beispielsweise war vom Regierenden Bürgermeister zu erfahren, dass Verkäuferinnen eigentlich nicht in die Oper gingen. Eigentlich ist gemeint, dass er Opern nicht mehr so stark subventionieren möchte, aber für die Kürzungen nicht die Verantwortung übernehmen möchte. Stattdessen möchte er sich wohl lieber auf einen konstruierten Bevölkerungswillen beziehen. Theoretisch könnte man dieses Argument auch auf jedes x-beliebige weitere Angebot übertragen, sofern man sich nur eine beliebige Personengruppe konstruiert, die dieses jeweilige Angebot angeblich nicht in Anspruch nähme. Diese Art der Argumentation ist unredlich und spaltet die Gesellschaft.

Der Kern des Desasters ist, dass mit diesen Kürzungen Angebote und Orte der physischen Begegnung und Verständigung zerstört werden. Dass Angebote der sozialen Unterstützung wegfallen. Dass all das in einer Zeit wie dieser stattfindet, in der die Ermöglichung von Begegnung und Gesprächen jenseits der eigenen Millieus, die Schaffung von Planbarkeiten und die Eröffnung von Gestaltungsspielräumen wichtig wäre, wie lange nicht mehr.

Die Koalition hat sich offenkundig auferlegt, auch sich selbst keine Gestaltungsspielräume zu eröffnen. Nach dem Doppelhaushaltsbeschluss ist vor dem nächsten Doppelhaushaltsbeschluss und auch zu diesem sind die Prognosen bereits düster. Die Koalition sollte sich überlegen, ob sie die breite Zivilgesellschaft, die in dieser Stadt und für diese Stadt aktiv ist, für eine gemeinsame Agenda gewinnen möchte, um die Stimmung zu drehen, oder ob sie gegen die Stadtgesellschaft regieren möchte. Nach meinem Eindruck würde die Stadtgesellschaft Zweiteres nicht mitmachen.