Eine der zur Alltäglichkeit gewordenen Unarten politischer Argumentation ist das Aufstellen von argumentativen „Pappbürgern“, denen man ein stereotypes Dasein, Berufsbild und Interesse unterstellt und entlang derer man dann auch gleich das eigene Programm durchdekliniert. Das nennt man dann „nah am Volk“ oder „gesunder Menschenverstand“. Die Anderen hingegen sind dann diejenigen, die „Identitätspolitik“ betreiben.
Beispielsweise erfährt man in solchen Debatten über die immer wieder bemühte Krankenschwester, dass sie in jedem Fall alleinerziehend ist. Sie wohnt entweder am Stadtrand oder noch weiter draußen. In jedem Fall braucht sie ein Auto. Sie arbeitet hart und kann mit gesellschaftspolitischen Debatten wie Frauenrechts“gedöns“ nichts anfangen und hat dafür auch keine Zeit, weil sie ja bekanntlich so weit draußen wohnt und sehr damit beschäftigt ist, in der Gegend herumzufahren, oder sich um ihre Kinder zu kümmern.
Über den Kindsvater erfährt man in solchen Debatten hingegen selten etwas. Auffällig ist auch, dass diese alleinerziehende Pflegekraft in solchen Debatten nie ein alleinerziehender Vater ist. Ihre Bedürfnisse als Mutter, Frau, Bürgerin oder Arbeitnehmerin spielen eher selten eine Rolle, sondern vor Allem die, die ihr als Krankenschwester mit Arbeitsweg zugesprochen werden. Aber: sie bekommt Applaus und Zuspruch für ihren Dienst an der Gesellschaft. Für mehr reichts dann leider aber oft nicht mehr.
Über ein anderes Stereotyp, nämlich das der Verkäuferin, haben wir Berliner:innen in dieser Woche vom Regierenden Bürgermeister erfahren, dass sie selten in die Oper geht und um sie ging es auch in der heutigen Abgeordnetenhausdebatte. Es gibt zwar keine bekannte Statistik über Berufsgruppen, die in Berlin in die Oper gehen, aber die Bauchipedia des Regierenden Bürgermeister weiß das genauso, wie sie den Blick der Berliner:innen auf das kostenbeteiligungsfreie Schulmittagessen kennen will.
Bezeichnenderweise ging es bei seinen Aussagen eigentlich auch gar nicht um die Verkäuferin, sondern darum, dass der Senat den Opern das Geld kürzen will und dafür irgendeine Begründung braucht, für die sich im örtlichen Wahlkreis 20% Zustimmung finden könnten.
Was man auch immer wieder über die Verkäuferin erfährt (das hat sie mit der Krankenschwester gemeinsam), ist der Umstand, dass sie es skandalös findet, dass man als Bürgergeldempfänger nur knapp weniger als diese Berufsgruppen „raus hat“.
Ebenso erfährt man, dass diese beiden die Bürgergeldempfänger so dolle doof finden, dass es politisch opportun erscheint, Letztere zum ehrenamtlichen Laubharken verdonnern zu wollen. Man erfährt hingegen nie, ob Krankenschwester und Verkäuferin es vielleicht noch skandalöser finden könnten, dass ihre Arbeitgeber sie nur knapp oberhalb des Sozialleistungssatzes für ihre Arbeit entlohnen.
Aber gut, es ging ja jetzt auch um die Berliner Opern und die Bauchipedia des geneigten Wahlkreisbewohners und Sozialneid zwischen Bevölkerungsgruppen kickt halt medial einfach mehr, als komplizierte Debatten übers Sozial- oder Tarifrecht. Deshalb zurück zum Thema.
Wen man in solchen Debatten auch häufig trifft: den „hart arbeitenden Familienvater“. Der hingegen ist wohl mehr hart arbeitend, als Vater, denn man erfährt zwar, dass er sehr damit beschäftigt ist, mit dem Auto durch die Gegend zu fahren, aber wenig über seine Erwartungen an die Politik in seinen Eigenschaften als Vater, Mann und Bürger.
Was man aber relativ schnell und immer wieder erfährt, ist, dass er wohl sehr damit beschäftigt sein soll, sich übers Gendern aufzuregen, weshalb es auch politisch keinen Sinn ergäbe, sich mit Gleichstellungsfragen, zu denen auch Väterrechte gehören, zu beschäftigen.
Ich habe diesen Vater so zwar noch nicht getroffen, aber es soll ihn wohl in einer derart überwältigenden Anzahl geben, dass es quasi keinen Sinn ergibt, sich mit Themen jenseits seines Horizonts (asphaltierte Straßen, Fleischkonsum und eine möglichst grobe Ansprache) mehr zu beschäftigen . Auch er geht übrigens nie in die Oper.
Über die „Schwäbische Hausfrau“ (auch so ein gern bemühtes Stereotyp) lernt man, dass sie sehr sparsam ist, aber man erfährt nie, ob ihre Kinder eine neue Schule brauchen, oder dass sie gern auch mal in Kleinkunsttheater oder vieleicht sogar in die Oper gehen möchte, dass sie einen sicheren Fahrradweg oder einen schönen Spielplatz für ihre Kinder haben möchte. Man erfährt auch nie, ob sie vielleicht Gesetze gegen Frauengewalt gut finden könnte, aber vielleicht hat sie darüber auch noch nie nachgedacht, weil sie ja gedanklich mit ihrem Sparplan voll ausgelastet ist.
Möglicherweise haben Sie es gemerkt: es nervt mich. Wenn ich den gängigen Debatten folgen möchte, lerne ich über mich beispielsweise (Vater, zwei Kinder, verheiratet, Anfang 40, Anwohner „außerhalb des Rings“ und mittlerer Angestellter), dass meine Hauptsorgen darin bestehen, mit dem Auto zur Arbeit zu kommen.
Generell scheint es viel darum zu gehen, dass irgendwer mit irgendeinem Auto zu irgendeiner Arbeit kommt und dass das scheinbar das verbindende Interesse der Verkäuferin, der Krankenschwester, des „hart arbeitenden Vaters“, meiner Wenigkeit als Außenringbewohner und auch das des Mannes der schwäbischen Hausfrau zu sein scheint.
Tatsächlich fänd ich es erfrischend, wenn mir „meine Landespolitik“ mehr anbietet, als argumentative eindimensionale Pappbürger, die eigentlich nur der eigenen Argumentation dienen sollen, aber in ihrer Eindimensionalität „hier draußen“ eigentlich gar nicht rumlaufen, sondern stattdessen Menschen mit Wünschen, Ideen, Sorgen, Familie und Freunden.
Das wäre nicht nur ein Zeichen des Respekts gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, sondern würde auch die Möglichkeit eröffnen, Stadtpolitik so zu gestalten, dass sie der Bevölkerung in ihrer Unterschiedlichkeit und teilweise auch Widersprüchlichkeit gerecht werden kann.
Ich will von Abgeordnetenhausmitgliedern oder Senatsmitgliedern nicht erfahren, welche Interessen sie mir unterstellen, sondern ich will wissen, was sie planen und wie sie es begründen. Und lasst endlich die Verkäuferin in Ruhe, sofern ihr nicht dafür sorgen wollt, dass sie nicht wegen eines Pfandbons entlassen werden kann.
Danke.