Wer wissen möchte, welche 30 jahre alten Fehler der bayerischen Kultusverwaltung die Berliner Bildungsverwaltung derzeit insbesondere, aber nicht nur im Umgang mit geflüchteten Jugendlichen wiederholt, sollte dieses Buch lesen.
Natalya Nepomnyashcha, die Hauptautorin des Buches, kam Anfang der 1990er Jahre mit ihren Eltern als „Kontingentflüchtling“ aus der Ukraine nach Deutschland. Sie schildert in sehr persönlicher Weise ihren eigenen Bildungsweg und die Hürden, die sie als armutsbetroffenes Kind einer Einwandererfamilie überwinden musste. Das Verdienst des Buches ist es, die Folgen und die „Gläsernen Decken“ eines undurchlässigen Bildungswesens und einer klassistisch segrierenden Gesellschaft durch ihr eigenes Beispiel greifbar zu machen, hierbei aber nicht selbstreferentiell zu werden. sie macht immer wieder den Blick „aufs Ganze“ auf, unterlegt diesen wissenschaftlich und verständlich und stellt auch dar, was uns diese Chancenungleichheit als Gesellschaft und Volkswirtschaft kostet.
Diskriminierung und Vorurteile im Bildungsweg
Die Erzählung beginnt mit Nepomnyashchas Ankunft in Deutschland in den frühen 1990ern. Ihre Schul-, Ausbildungs- und Studienlaufbahn ist von zahlreichen Barrieren und Vorurteilen geprägt. Der Autorin gelingt es, eindrücklich, aufzuzeigen, wie strukturelle Diskriminierung, gepaart mit ausländerfeindlichen Stereotypen, das Leben von Kindern beeinflussen kann, die nicht aus privilegierten Verhältnissen stammen. Klassismus und andere soziale Stereotypen sind zentrale Themen des Buches.
Nepomnyashcha beschreibt, wie sie immer wieder mit dem Vorurteil konfrontiert wurde, dass Kinder aus ärmeren Familien oder mit Migrationshintergrund weniger leistungsfähig seien oder eine schlechtere Schulbildung verdienten bzw. sich mit dieser begnügen müssten und welche Folgen das für sie und ihren weiteren Werdegang hatte.
Eindrücklich wird ihre Reflexion über die in unserer Gesellschaft tief verwurzelten Stereotype, wie etwa „Mädchen sind nicht gut in Mathematik“ oder „Kinder aus Arbeiterhaushalten sind eher handwerklich geeignet“. Diese Klischees wirken sich nachhaltig auf die Bildungsmöglichkeiten und Berufschancen vieler junger Menschen aus. Nepomnyashcha macht deutlich, dass das Bildungssystem nicht auf Leistung und Potenzial ausgelegt ist, sondern auf die Reproduktion bestehender sozialer Verhältnisse. Die Autorin reflektiert ihre eigene Schulzeit und ihre Schwierigkeiten, in einem Umfeld Fuß zu fassen, das von sozialen Unterschieden und den entsprechenden Erwartungen geprägt ist.
Bourdieus Habitus und die „Gläsernen Decken“
Ein zentrales theoretisches Konzept, auf das sich die Autorin bezieht, ist Pierre Bourdieus Begriff des Habitus. Bourdieu beschreibt, dass der Habitus eines Menschen – also seine Denk- und Verhaltensweisen, die durch die soziale Herkunft geprägt sind – dazu führt, dass bestimmte Menschen in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen eher „angekommen“ wirken, während andere wie Fremdkörper erscheinen. Nepomnyashcha analysiert, wie dieser Habitus Kinder aus benachteiligten sozialen Verhältnissen in ihrer Bildungslaufbahn hemmt und es ihnen schwer macht, sich im späteren Berufsleben durchzusetzen.
Nepomnyashcha zeigt auf, wie sie selbst in vielen Situationen an die „gläsernen Decken“ gestoßen ist – unsichtbare Barrieren, die verhindern, dass Menschen aus weniger privilegierten Verhältnissen höhere soziale und berufliche Positionen erreichen können. Diese Barrieren sind nicht physischer Natur, sondern tief in den gesellschaftlichen Strukturen verankert. Durch ihre persönliche Erzählung wird dem Leser klar, wie schwer es ist, diese Grenzen zu überwinden, und wie selten dies tatsächlich gelingt.
Kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Bildungssystem
Besonders wertvoll an dem Buch ist Nepomnyashchas tiefgreifende Analyse des deutschen Bildungssystems, das sie als eine der Hauptquellen sozialer Segregation identifiziert. Sie beschreibt eindrücklich, wie das deutsche Schulsystem nicht nach Leistung, sondern nach sozialer Herkunft selektiert und führt hierfür auch Interviews mit Lehrkräften und Schulleitungen und besucht Schulen. Kinder aus wohlhabenden und gebildeten Familien haben bessere Chancen auf eine akademische Laufbahn, während Kinder aus weniger privilegierten Verhältnissen oft auf der Strecke bleiben.
Hierbei wird das Bildungssystem als Spiegelbild einer Gesellschaft dargestellt, die es nicht schafft, soziale Ungleichheiten auszugleichen, sondern diese eher verstärkt. Nepomnyashcha beschreibt detailliert, welche strukturellen Hürden es für Kinder aus nichtakademischen Haushalten gibt und welche Faktoren ihren Zugang zu höherer Bildung und später zu gut bezahlten Berufen erschweren. Sie beleuchtet hierbei Themen wie die Studien- und Berufsberatung, die finanziellen Hürden für Studierende, die arbeiten müssen, um sich das Studium zu finanzieren sowie die Hürden, die selbst im BAföG-System angelegt sind, obwohl dieses Aufstiegshürden eigentlich abbauen soll.
Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit
Eines der zentralen Anliegen des Buches ist Nepomnyashchas Appell, den Diskriminierungsbegriff in Deutschland auszuweiten, um auch die soziale Herkunft als Kriterium zu berücksichtigen. Sie plädiert für eine dringend nötige gesellschaftliche Debatte über Klassismus und ein umfassenderes Verständnis von Diversität, das auch die soziale Herkunft umfasst, und fordert Unternehmen auf, dies in ihre Personalpolitik zu integrieren. Ihre Vorschläge für datenschutzkonforme Erhebungsmethoden zu diesem Thema sind praxisnah und zeigen, dass es durchaus möglich ist, dieses Merkmal in den Fokus zu rücken.
Auch wenn es ihr gelungen ist, einige der gläsernen Decken zu durchbrechen, stellt sie klar, dass ihr Beispiel nicht als Beweis für die Durchlässigkeit des Systems verstanden werden sollte. Vielmehr sieht sie ihre eigene Geschichte als Ausnahme, die die Regel bestätigt: Das deutsche Bildungs- und Sozialsystem ist weit davon entfernt, für alle Menschen die gleichen Chancen zu bieten.
Das „Netzwerk Chancen“
Ein weiteres Highlight des Buches ist die Darstellung der Gründung und des Zwecks des von Nepomnyashcha ins Leben gerufenen „Netzwerk Chancen“, das benachteiligten Menschen Unterstützung bietet. Sie schildert die Lebensläufe von Mentees, die durch das Netzwerk gefördert wurden, und macht deutlich, welche positive Wirkung gezielte Förderung haben kann. Auch ihre eigenen Unsicherheiten und Ängste, die sie trotz ihrer Erfolge bis heute begleiten, beschreibt sie offen und ehrlich.
Fazit
„Wir von unten“ ist ein sehr gutes Buch für alle, die verstehen wollen, warum das deutsche Bildungssystem so undurchlässig ist und wie Klassismus und soziale Ungleichheit tief in den Strukturen unserer Gesellschaft verankert sind und sich im Bildungswesen reproduzieren.
Natalya Nepomnyashcha gelingt es, durch ihre persönliche Geschichte und die wissenschaftliche Untermauerung die unsichtbaren Hürden sichtbar zu machen, die viele Menschen daran hindern, ihr Potenzial voll zu entfalten. Dabei bleibt sie immer lösungsorientiert und gibt konkrete Vorschläge, wie wir als Gesellschaft diesen Problemen begegnen können. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt und einen wichtigen Beitrag zur Debatte über soziale Gerechtigkeit in Deutschland leistet.
„Wir von unten“
Natalya Nepomnyashcha mit Naomi Ryland
Ullstein-Verlag
19,90€ im Hardcover
Gelesen im August 2024