Zum 09. November in all seiner Vieldeutigkeit wird dieser Tage wieder sehr viel gesagt, geschrieben, gedeutet und diskutiert. Persönlich möchte ich hierzu zwei Reden von Christa Wolf und Marko Martin verlinken, die ich wichtig und bedeutsam finde.
Zum Einen die Rede von Christa Wolf vom 04.11.1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Die Maueröffnung ein paar Tage später war noch nicht absehbar. Der Widerstand gegen das SED-Regime in der Bevölkerung hat sich organisiert und forderte die Abschaffung der führenden Rolle der SED in der DDR und die Abschaffung des Repressionsapparats.
Ich finde diese Rede (und andere auf dieser Demonstration) auch deshalb so beeindruckend, ja maßstäblich, da sie zeigt, dass Widerspruch und Widerstand nicht in einer Ansprache stattfinden müssen, die an niederste Instinkte appelliert. Sie beschreibt die Umstände, aufgrund derer Millionen auf die Straße gegangen sind und adressiert die Verantwortlichen, aber zeigt auch auf, dass diese Bewegung auf etwas Positives gerichtet sein kann, das Menschen nicht gegeneinander in Stellung bringt, sondern auf etwas, das Menschen befähigt und ermächtigt. Ich schaue mir diese Rede immer wieder gerne an.
Zum Anderen eine erst jüngst gehaltene Rede des Schriftstellers Marko Martin, der im Rahmen einer Festveranstaltung im Schloss Bellevue an die Befreiungsbewegung von 1989 erinnerte und hierbei die Rolle der osteuropäischen Länder betonte, die im innerdeutschen Diskurs allzu häufig zu wenig beachtet wird.
Er äußerte hierbei auch direkte Kritik am Bundespräsidenten im Bezug auf dessen frühere Amtszeit als Bundesaußenminister und die massive Fehleinschätz der Absichten der Russischen Regierung selbst nach der Annexion der Krim. Er zeigte hierbei auf, dass diese Fehleinschätzungen und ihre Folgen ein Verrat an der osteuropäischen Befreiungsbewegung von 1989 gewesen sind. Der Bundespräsident reagierte nach Medienberichten sehr empört auf diese Rede.
Die Rede schafft es, den Charakter der Befreiungsbewegung von 1989 über den rein innerdeutsch und verkürzt geführten Diskurs hinaus zu umreißen und er würdigt insbesondere die Verdienste der polnischen „Solidarność“-Bewegung. Und er hat diese Rede exakt dort gehalten, wo sie hingehörte und auch gehört wird. Sie war keine Gefälligkeitsrede und auch keine, die auf die üblichen Floskeln zurückgreift, die Gedanktage zum Mauerfall allzu häufig begleiten.
Für Kritik wurde ich offenbar nicht eingeladen. Herr Steinmeier hat mir gestern überdies noch einen Vorwurf gemacht: Ich sei Gast im Schloss Bellevue gewesen – als hätte ich mich mit meiner Rede sozusagen danebenbenommen. Ich finde das wirklich bemerkenswert. Marko Martin (Link)
Dass beide von mir verlinkten Reden von Schriftstellern stammen, war keine Absicht, aber es ist vermutlich auch kein Zufall. Beide Reden zeigen, dass Sprache Wirklichkeiten schaffen und formen kann. Christa Wolf formulierte dies in ihrer Rede sogar explizit und für mich persönlich ergibt sich hier auch die Hauptfrage zum 09. November in all seiner Vieldeutigkeit:
Wie reden wir über- und miteinander und über die Gegenwart und Zukunft und welche Realitäten formen wir durch unsere Sprache?
Diese Frage geht weit über den 09. November hinaus, aber an diesem Tag kristallisiert sie sich besonders, insbesondere auch mit Blick auf viele weitere 09. November, auf die wir in unserer Geschichte zurückblicken.