Alljährlich wiederholt sich mit der Zustellung der Bescheide für die weiterführenden Schulen das gleiche Drama:

Kinder und Familien sind aufgebracht, bei denen es nicht nur mit der Wunschschule nicht geklappt hat, sondern die durch die halbe Stadt fahren müssen, weil ihnen das Schulamt eine Schule in einem anderen Bezirk zugewiesen hat.

Diese Bescheide erreichen die Familien nach einem häufig zweijährigen Kampf um die besten Noten für den „Grundschul-NC“, der maßgeblich für die Chancen auf einen gewünschten Schulplatz ist. Ein Kampf, der die Kinder belastet, aber auch die Familien insgesamt und der auch die Grundschulen und die dortigen Lehrkräfte unter Druck setzt.

Denn: Berlin hat nach wie vor zu wenig Schulplätze insbesondere in den weiterführenden Schulen. In Pankow beispielsweise gibt es rund 20% mehr Kinder, als Schulplätze an weiterführenden Schulen, was bedeutet, dass Kinder entweder in überbelegte Klassen oder gleich in andere Bezirke ausweichen müssen. Häufig nach Charlottenburg und Lichtenberg, in nicht wenigen Fällen sogar nach Steglitz-Zehlendorf. Zwei Stunden zulässige Fahrzeit von und zur Schule jeden Tag sind insbesondere für 12-Jährige einfach sehr weit und auch für ältere Jugendliche eine Belastung.

Für die Kinder bedeutet dies, dass sie nicht nur sehr weite Schulwege auf sich nehmen müssen, sondern auch, dass sämtliche Nachmittagsaktivitäten der Vergangenheit angehören. Es bedeutet auch, dass die Mitschülerinnen und Mitschüler, auf die man in der neuen Klasse trifft, in der Regel keine Kinder und Jugendlichen sind, mit denen man sich dann am eigenen Wohnort verabreden kann.

Die Übernachfrage an Schulen führt dazu, dass diese Kriterien festlegen müssen, nach denen sie ihre künftigen Schülerinnen und Schüler auswählen. Diese sind jenseits von Losverfahren und Härtefällen in der Regel die Zensuren bzw. die Notensummen der Förderprognosen, da die Kriterien rechtssicher sein müssen, also vor Gericht Objektivität behaupten können müssen. Durch eine steigende Zahl von Anmeldungen steigt damit die Zahl derer mit guten und sehr guten Zensuren, was es denjenigen schwerer macht, deren Zensuren sich im Mittelfeld oder darunter bewegen. An Schulen mit übergroßer Nachfrage entstehen so „NCs“, die mit den schulgesetzlichen Kriterien für die Schulen nur noch wenig zu tun haben. Ein Pankower Gymnasium lehnte in diesem Jahr sogar Schüler:innen mit einem Schnitt von 1,0 ab, weil es mehr 1,0er-Bewerber:innen gab, als Plätze und dieses Gymnasium ist in Pankow nicht die Ausnahme, sondern ein Regelfall.

Ebenfalls in Pankow beispielsweise wird es mit einem 2,0er-Schnitt bereits schwierig, zuverlässig einen Platz an einer Integrierten Sekundarschule zu bekommen. Manche Integrierte Sekundarschule hat sich durch das Verfahren mittlerweile zum Ersatzgymnasium entwickelt, andere Integrierte Sekundarschulen segregieren sich zum anderen Ende der Leistungskette hin und wandeln sich faktisch zu Hauptschulen, die das Land Berlin eigentlich mal abgeschafft haben wollte, mit allen Folgeproblemen.

Der Druck auf die Kinder in den fünften und sechsten Klassen und ihre Familien ist entsprechend hoch und auch der Druck von Familien auf die Lehrkräfte ist erheblich. Immer wieder ist in weiterführenden Schulen zu vernehmen, dass die dort erbrachten Leistungen der Kinder in der Klasse 7 (in grundständigen Gymnasien in Klasse 5) nur wenig mit dem zu tun haben, was auf dem Grundschulzeugnis ausgewiesen war und dass die Grundschulnoten häufig mutmaßlich mehr über die Hartnäckigkeit von Eltern, als über die Leistungen ihrer Kinder aussagen.

Die Neuregelung der Übergänge durch die Senatskoalition hat in diesem Jahr dazu geführt, dass der Zugang an die Gymnasien erschwert wurde. In der Folge gab es weniger Aufnahmen an Gymnnasien, als in den Vorjahren und die ISSen kämpfen noch mehr mit Platzproblemen, als zuvor schon.

An einigen grundständigen Gymnasien sind die Bewerberzahlen zur Klasse 5 in diesem Jahr geradezu in die Höhe geschnellt, mutmaßlich, weil Eltern ihre Kinder dem neuen Verfahren zur Klasse 7 nicht aussetzen wollten. Eine Überlegung dabei könnte auch sein, das Los des eigenen Kinds im Zweifel zwei Mal in die Tombola zu geben (zu Klasse 5 und zur 7). Das führte hingegen zu noch mehr Fantasie-NCs, die von den Gymnasien aufgerufen wurden.

Und wie soll eine Schule ein Profil entwickeln können, wenn sich ein Großteil der Jugendlichen vor Allem wegen der räumlichen Nähe zum Wohnort angemeldet hat? Um den Schulen die Möglichkeit zur Profilbildung zu geben und Jugendlichen die Möglichkeit zur Wahl von Profilen, wurde seinerzeit übrigens die Einzugegebietsbindung der weiterführenden Schulen abgeschafft. Dieses Verfahren schleift Schulprofile UND sorgt für weite Schulwege.

Dieses System ist kaputt und die aktuelle Koalition bringt noch mehr Unruhe hinein. Dass ein Kind selbst mit einem 1,0er-Schnitt keinen Platz an einer seiner drei Wunschschulen bekommt, ist kein Unfall, sondern eine logische Folge dieses Verfahrens.

Wie will man Kinder wieder motivieren, wenn sie nach einem zweijährigen Kampf um den bestmöglichen Notenschnitt und sogar mit einem Ergebnis von 1,0 doch keine Chance haben?

Was bedeutet es für Kinder, denen der Unterricht ohnehin schon schwer fällt, wenn sie potentiell nach einem solchen Verfahren auch noch die weiteren Schulwege haben, weil andere Kinder mit einem besseren Schnitt die besseren Chancen auf einen wohnortnahen Schulplatz haben?

Würde ich anfangen, jetzt auch noch Aspekte der Inklusion aufzumachen, würde dieser Beitrag kein Ende mehr nehmen.

Als unser erstes Kind am Beginn der 2010er-Jahre geboren wurde, ging das Kämpfen los:

um eine Hebamme, um den Elterngeldbescheid, um einen Kitaplatz, um Schwimmkurse und so Vieles mehr. Beinahe jedes nötige Angebot war und ist ein Kampf und so wie uns geht es den meisten Eltern in Berlin. Einen Teil der Alphabetisierung mussten wir zur Coronazeit im Homeschooling machen, weil auch der damalige Stand der Digitalisierung der Grundschule kaum mehr, als ein schlechter Scherz war.

Die Bedürfnisse von Kindern und Familien sind jenseits von Sonntagsreden kein Ausgangspunkt von Politik. Die Erwartungen sind dafür umso höher:

Eltern sollen in Vollzeit arbeiten, aber gleichzeitig nachmittags mit den Kindern Hausaufgaben machen. Sie sollen einspringen und ihre Arbeitgeber beschwichtigen, wenn die Betreuung in der Kita kurzfristig wegen Krankheitsfällen nicht sichergestellt ist. Eltern sollen sich in Elternvertretungen einbringen, aber das System bitte nicht mit Ideen oder gar Erwartungen überfordern.

Pankower Eltern werden neuerdings gebeten, ihre Kinder vormittags zusammen mit dem schulischen Personal zum Schwimmunterricht zu begleiten, weil der Bezirk die „Schwimmbusse“ eingestellt hat und auch vorhat, die Beförderung für Kinder mit Behinderungen in den Ferien einzustellen. Gleichzeitig sollen sie bitteschön noch pflegebedürftige Eltern möglichst selbst pflegen, weil die Bundesregierung festgestellt hat, dass es nicht genügend Pflegeplätze gibt.

Eltern sollen ihre Kinder zu sozial kompetenten Menschen erziehen, während der Senat demonstriert, wie man mit diskriminierten Menschen (im aktuellen Fall eine Lehrkraft) nicht umgehen sollte. Eltern sollen bei alledem bitte auch nicht allzu viel finanzielles Engagement vom Staat erwarten, sondern im besten Fall noch die Bildungsinfrastruktur mit eigenen Gebühren für Mittagessen, Hort und die Fahrt der Kids zur Schule am anderen Ende der Stadt unterstützen und Verständnis dafür haben, wenn Schulsozialarbeit, Jugendeinrichtungen, Bildungsangebote freier Träger und vieles andere zusammengestrichen werden. Und bitte irgendwie einfach damit umgehen, dass auch die Wohnraumkosten in den letzten Jahren geradezu explodiert sind.

Das große Kind hat seit einiger Zeit (nach einer Auseinandersetzung mit dem Schulamt) einen Schulplatz an einer weiterführenden Schule, unser jüngeres Kind werden wir in den nächsten Jahren „unterbringen“ müssen. Neulich schrieb ein Elternteil in einem Online-Forum von „Hunger-Games“, angelehnt an die „Tribute von Panem“. Ich verstehe den Vergleich sehr gut.

Meine Frau und ich haben entschieden, diese Lotterie, als das zu begreifen, was sie ist: eine unterm Strich willkürliche Lotterie, bei der es keine zuverlässigen Kriterien gibt, nach denen man sich anfänglich richten kann.

Nicht, weil es uns egal wäre, sondern um die Gesundheit unserer Kinder zu schonen. Was bringt es, Kindern jahrelang zu erzählen, dass dieser oder jener Schulplatz in Aussicht stünde, wenn sie dieses oder jenes tun oder erreichen würden, wenn dies doch nicht der Fall ist?

Am Ende des Verfahrens kann man durch „strategisches Wählen“ oder den Rechtsweg vielleicht doch noch was erreichen, aber in den zwei Jahren davor die Kids kirre machen? Nein.

Eine grundsätzliche Besserung ist nicht in Sicht.

Signifikant mehr Schulplätze wird es trotz Schulbauoffensive kurzfristig nicht geben. Was könnte der Senat tun?

Mittel- und langfristig daran arbeiten, dass die frühe Segregation, für die es bildungswissenschaftlich keine sinnvollen Argumente gibt, endet. Dies meint beispielsweise einen deutlichen Ausbau der Gemeinschaftsschulen mindestens bis zur Klasse zehn. Aber auch das würde die jetzige Schülergeneration nicht mehr erleben.

Kurzfristig sollte der Senat aufhören, durch eine unausgegoren konzipierte und schlecht umgesetzte Neuregelung der Übergänge noch mehr Unruhe ins System zu bringen. Kinder und Familien sind kein Experimentierfeld. Und der Senat könnte beweisen, dass nicht nur Einsparziele, sondern die Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und Eltern Ausgangspunkte von Politik sein können.