„[…] Bei der Migration sind wir sehr weit. Wir haben in dieser Bundesregierung die Zahlen August ´24, August `25 im Vergleich um 60% nach unten gebracht, aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen. Das muss beibehalten werden, das ist in der Koalition verabredet und wenn dieses Thema weg ist, werden andere trotzdem bleiben […]“ (Quelle) sprach Bundeskanzler Friedrich Merz vorgestern in Potsdam.
Er ist der gleiche Kanzler, der in der Vergangenheit über Asylbewerber schimpfte, die „uns“ die Zahnarzttermine wegnehmen würden, der von „kleinen Paschas“ sprach und von Vielem mehr. Nun bemüht sich sein Regierungssprecher im Nachhinein um Glättung der Wogen mit der Aussage, Friedrich Merz hätte die Aussage als Parteivorsitzender und nicht als Kanzler getätigt.
Aber:es geht nicht um die Rolle, sondern um das Menschenbild hinter einer solchen Aussage, weshalb es auch unerheblich ist, ob er eine solche Aussage als Kanzler, als Parteivorsitzender, als Abgeordneter, oder als Privatperson tätigt.
Es gibt an einer solchen Aussage auch nichts misszuverstehen, oder durch einen Versuch des Rollenwechsels anders zu kontextualisieren. Im Kontext der anderen zitierten Aussagen („Paschas“, „Zahnarzttermine“ etc.) erst recht nicht. Es ist auch für den entstehenden Schaden unerheblich, ob er solche Aussagen versehentlich, oder absichtlich tätigt.

Die Verschiebung von Maßstäben
Der Journalist Jonas Schaible schrieb dieser Tage in einem sehr eindringlichen Artikel:
„Wenn es wirklich so wäre, dass das Stadtbild das Problem wäre, dass viele Menschen sich nicht mehr daheim fühlen in ihrer Stadt, wenn sie aussieht, wie eine deutsche Stadt heute aussieht – dann wäre demokratische Politik wahrscheinlich am Ende ihrer Möglichkeiten. Man könnte diesem Gefühl nämlich nur begegnen, indem man Homogenität erzwingt, und das ginge in der real existierenden deutschen Gesellschaft nur mit autoritären Mitteln, mit schrankenloser Willkür und unvorstellbarer Gewalt.“
Das ist der Punkt, an dem wir angekommen sind und von dem aus der Bundeskanzler argumentiert und handelt.
Der Bundeskanzler hat sich nicht einfach „nur“ versprochen, oder „die Grenze des Sagbaren verschoben“. Er hat die Debatte über staatliches Handeln in einen komplett neuen Maßstab gesetzt und erklärt, sein Innenminister (Alexander Dobrindt, CSU, Anm.) würde das „Problem im Stadtbild“ durch Abschiebungen lösen. Brandenburgs Ministerpräsident Woidke (SPD) nickte derweil beflissen im Hintergrund.
Was bedeutet es für eine Stadt wie Berlin…
…in der vier von zehn Einwohner:innen einen Migrationshintergrund haben und in der der Anteil bei den Kindern und Jugendlichen noch über dieser Quote liegt? In der ein großer Anteil an Einwohner:innen mit Deutscher Staatsbürgerschaft migrantisch gelesen werden kann? Und wer passt nach Migrant:innen als Nächstes nicht ins „Stadtbild“? Es braucht nicht viel Phantasie, um die von rechts zu erwartenden Antworten darauf selbst zu geben.
Was bedeuten solche Aussagen für Familien und Kinder dieser Stadt und wie positioniert sich der Senat, um Kinder und ihre Familien vor den Folgen solcher Aussagen zu schützen, insbesondere vor dem Hintergrund zunehmenden Rechtsextremismus‘ in der Gesellschaft?
Ich habe diesbezüglich im Haus von Bildungs- Jugend- und Familiensenatorin Günther-Wünsch (CDU) nachgefragt und wollte wissen, wie die Senatorin zu diesen Aussagen steht und was Betroffene bzw. die gemeinten Familien insbesondere vor der Zunahme des Rechtsextremismus von ihrer Jugend- und Familiensenatorin erwarten dürfen.
Auch der Berliner Landesschülerausschuss hat im vergangenen Jahr mehrfach dringlich auf zunehmenden Rechtsextremismus in Schulen hingewiesen, dessen Ideologie maßgeblich auf völkischer „Logik“ basiert.
Ein Sprecher der Senatorin antwortete auf meine Anfrage:
„Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie kommentiert grundsätzlich keine politischen Bewertungen oder Aussagen Dritter, zumal diese außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs getroffen wurden. Hinsichtlich Ihrer dritten Frage bitten wir um die Übersendung der von Ihnen genannten statistischen Grundlage zu einer „Zunahme rechtsextremer Vorfälle“, damit wir deren Herkunft und Bezug prüfen können. Erst auf dieser Basis können wir Ihre Anfrage fachlich beantworten.“
Diese Antwort ist in mehrerlei Hinsicht interessant:
1. Meine Anfrage richtete sich nicht an die Verwaltung (die in ihrem Handeln parteipolitisch neutral agieren muss), sondern explizit an die Senatorin als politische Hausleitung, die sich durchaus das Recht herausnehmen kann, sich zu solchen Aussagen zu positionieren. Mit Blick auf den Auftrag der Schulen, deren Vorgesetzte sie ist, könnte man dies sogar als dringend geboten betrachten:
„[…] Ziel muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestalten.“
(§1 des Schulgesetzes des Landes Berlin).
Es ist jedoch auch eine politische Aussage, diese Frage auf eine bürokratische Ebene zu heben und sich für nicht zuständig zu erklären.
2. Die Bitte um Übersendung von statistischen Grundlagen. Habe ich natürlich gern gemacht, unter Anderem den Bericht des Bundeskriminalsamts von 2024. Ich ging allerdings auch davon aus, dass sich die Bildungsverwaltung schon aus eigenem Interesse heraus mit solchen Zahlen befasst haben müsste.
Eine weitere Antwort habe ich bisher nicht erhalten.
Was bedeutet es für die Berliner Familien, Kinder und Schulen, wenn die explizit für sie zuständige Senatorin sich im Fall der Diskriminierung, der Ausgrenzung und des Rassismus gegenüber sehr vielen (jungen) Menschen und Familien in dieser Stadt nicht zum Handeln und/oder zur Positionierung aufgefordert fühlt?
Beitragsbild: Screenshot der Pressekonferenz / Phoenix
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