Der Berliner Landesverband der Gewerkschaft VBE („Verband Bildung und Erziehung“) hat die Einführung einer „Vorschul- oder Kitapflicht“ gefordert.

Dies begründet er mit „Erheblichen Sprachdefiziten, motorischen Auffälligkeiten, Konzentrationsschwierigkeiten, sozialen Anpassungsproblemen und Übergewicht“ bei den Schülerinnen und Schülern und konstatiert, dass für den Bildungserfolg von Kindern nach wie vor die familiäre Herkunft Ausschlag gebend ist. Hieran habe sich in den vergangenen Jahren nichts verändert.

Die VBE schreibt in einer Pressemitteilung

„Zu den drei Schulkindern mit sonderpädagogischen Förderbedarfen pro Grundschulklasse kommen bis zu 60% Schulkinder, die die schulischen Grundfertigkeiten nicht mitbringen. Diese Mischung ist pädagogisch fast nicht mehr zu bewältigen, insbesondere, wenn der Unterricht durch Quereinsteiger oder Referendare abgesichert werden muss. Spätestens in der dritten Klasse kann man die Folgen beobachten, wenn 75% der Schulkinder gravierende Schwierigkeiten in den Grundfertigkeiten der Fächer Mathematik und Deutsch haben.“

Thomas Schenk, der sowohl Mitglied im geschäftsführenden Landesvorstand des VBE, als auch Leiter des „SIBUZ“ in Tempelhof-Schöneberg ist, verwies auf Nachfrage insbesondere auf die Ergebnisse der VERA3-Tests und die Ergebnisse der Berliner Schuleingangsuntersuchungen. Bei Letzteren sei eine „Ballung von Problemlagen“ in einem Teil der „bezirklichen Sozialräume“ erkennbar, die ein Handeln dringend erforderlich machten.

Debatte wird seit Längerem geführt 

Die Debatte über eine verpflichtende frühkindliche Bildung wird seit Langem geführt. Es gibt einen breiten wissenschaftlichen, aber auch parteiübergreifend-politischen Konsens, dass die frühkindliche Bildung als maßgeblicher Ausgangspunkt für einen gelingenden Bildungsweg anzusehen ist.

Bildungssenatorin Günther-Wünsch (CDU) hat sich mittlerweile mehrfach für eine Kitapflicht ausgesprochen, aber auch eingeschränkt, dass hierfür eine Grundgesetzänderung nötig wäre, da die allgemeine Verpflichtung, eine Bildungseinrichtung zu besuchen, erst mit Beginn der Schulpflicht eintritt. Eine Vorschulpflicht, also ein Vorziehen der Schulpflicht, wäre vergleichsweise einfacher durchzusetzen, jedoch steckt auch hier der Teufel im Detail.

Frühkindliche Sprachförderung

Die Berliner Senatskoalition hat mit Blick auf die frühkindliche Sprachförderung eine Absenkung der Hürden zur Erlangung eines Kitaplatzes (proaktive Versendung von Kitagutscheinen) und eine Ausweitung der Förderung im Rahmen anerkannter Sprachförderbedarfe („Kitachanchenjahr“) beschlossen.

Die Wirksamkeit dieser Entscheidungen ist aber noch nicht messbar, da die Neuregelung erst kommende Jahrgänge betrifft. Sie ist auch entgegen vielmaliger Darstellung der Berliner CDU-Fraktion keine „Vorschule“, da sie vorwiegend Aspekte der Sprachförderung zum Ziel hat, aber allenfalls nachrangig die Ausprägung weiterer für die Schulzeit relevanter Grundfertigkeiten.

Ziel der Senatskoalition mit dieser Gesetzesänderung soll sein, Kinder aufgrund individuell festgestellter Sprachförderbedarfe in die Kitas, oder Sprachfördereinrichtungen zu holen. Der Senat versprichtig sich hiervon eine bessere Beschulbarkeit der Kinder.

Thomas Schenk versah das „Kitachancenjahr“ aus Sicht des VBE mit verschiedenen Fragezeichen und sieht unter Anderem die Frage nicht beantwortet, wie reagiert werden soll, wenn Eltern der Pflicht zur Inanspruchnahme einer frühkindlichen Sprachförderung nicht nachkommen. An diesem Punkt scheiterte auch die bisher geltende Regelung häufig.

Kritiker:innen, wie die Berliner Sozialwissenschaftlerin Dr. Seyran Bostancı kritisieren die im Diskurs stattfindende und auch dem dem „Kitachancenjahr“ zugrunde liegende Fokussierung auf die Deutsch-Sprachförderung und fordert eine Absenkung der Hürden zur Erlangung eines Kitaplatzes. Diese Hürden seien aus ihrer Sicht ein wesentlicher Grund, weshalb viele Kinder den Weg in die Kita nicht finden.

„Ich beobachte eine Art autoritäre Wende in der Bildungspolitik. Schon die Sprachdiagnostik ab vier Jahre oder die Vorschulpflicht sind meiner Meinung nach Mogelpackungen. Sie versprechen Bildungsgerechtigkeit, werden aber bei genauerem Hinsehen nicht dazu führen. Studien zeigen, dass gerade diejenigen Kinder, die Sprachförderung am meisten bräuchten, gar nicht so viele Sprachanlässe bekommen. Wir wissen aber, dass Kinder dann gut die deutsche Sprache lernen, wenn Sprachanlässe da sind.

Also braucht es eine alltagsintegrierte Sprachentwicklung. Wenn wir anfangen, Kinder zu selektieren nach der Fähigkeit ihrer deutschen Sprache – wobei die Tests multilinguale Sprachentwicklungen gar nicht messen können – laufen wir Gefahr, einen Teil unserer Gesellschaft abzuhängen und die Kinder nicht so zu fördern, wie sie es bräuchten.“ (Aus einem Interview der Kita-Stimme Berlin mit Dr. Seyran Bostancı).

Der Schulleiter der Friedrich-Bergius-Schule, Engin Çatik, erklärte in einem Interview bei Markus Lanz „Wir nehmen aber wahr, dass Kinder, ohne sprechen zu können oder lesen zu können oder den Stift richtig halten zu können, in die Grundschule kommen.“ und forderte eine Kitapflicht. Sprachprobleme seien nicht nur bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund ein Thema, sondern vor allem bei armutsbelasteten Familien. Çatik sprach in diesem Zusammenhang von „Kopplung von Migrationshintergrund und Milieu“. (ZDF)

Hinzu kommt, dass viele Kinder mit Schwierigkeiten in die Schulzeit starten, obwohl sie eine Kita besucht haben. In Berlin beispielsweise besuchen etwa 93 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen eine Kindertagesstätte, oder vergleichbare Einrichtungen, bei den VERA3-Tests in den Grundschulen bleiben jedoch rund 40% unter den zu erwartenden Mindeststandards beispielsweise im Bereich der Sprachkompetenzen.

Dieser Umstand wurde auch vom Senat bisher nur unzureichend angegangen.

Existenzkampf der Berliner Kitas

Die Berliner Kitas kämpfen derweil mit einem Rückgang der Kinderzahlen, der für einen Teil der Träger zunehmend existenzbedrohend ist. Der Senat seinerseits reagiert mit einer Anpassung der Personalschlüssel, um Erzieher:innen im System halten zu können.

Mit Blick auf die Situation in den ostdeutschen Bundesländern und damit auch Berlin forderte die Bundesvorsitzende des Deutschen Kitaverbands, Waltraud Weegmann in einer aktuellen Pressemitteilung

„Die sinkenden Kinderzahlen dürfen nicht als Anlass für Einsparungen gesehen werden, sondern müssen als Gelegenheit genutzt werden, um endlich in Qualität zu investieren“ […]„Jetzt haben wir, aufgrund der Entspannung am Arbeitsmarkt für Erzieherinnen und Erzieher, die einzigartige Möglichkeit, in Bildung und damit in die Zukunft unserer Gesellschaft zu investieren.“ […] „Gerade für Kinder aus Familien mit nichtdeutscher Muttersprache oder sozioökonomisch herausfordernden Lagen ist eine frühzeitige und ganztägige Betreuung entscheidend. Sie brauchen die Kita als Bildungsort – je früher und intensiver, desto besser“ so Weegmann.

Bleibende Herausforderungen

Eine der wesentlichen Herausforderungen bleibt es, die Hürden für den Zugang zu Kitaplätzen abzubauen und insbesondere Familien aus sozioökonomisch herausfordernden Lagen besser für die frühkindliche Bildung zu erreichen.

Beitragsbild: Marco Fechner/Ideogram.ai