Ende August erreichte mich eine persönliche Einladung des Bundespräsidenten, im September am Bürgerfest im Park des Schloß Bellevue teilzunehmen. Zu diesem werden jährlich Menschen, die sich ehrenamtlich betätigen, eingeladen. Allein schon die Einladung empfand ich als außerordentliche Würdigung, habe ich mich sehr gefreut und für meine Familie und mich die Teilnahme bestätigt. Es war eine schöne und beeindruckende Veranstaltung.

Die Eröffnungsrede des Bundespräsidenten, in der er sich mit gesellschaftlichen Spaltungen und der Rolle, die das Ehrenamt für gesellschaftlichen Zusammenhalt spielt, beschäftigt hat, hat mich auch im Nachgang noch nachdenklich gemacht. Auch, weil er zum Diskurs mit „Mutbürgern“ (siehe weiter unten) eingeladen/aufgefordert hat, möchte ich auf diese im Rahmen dieses offenen Briefes aus der Perspektive meiner Ehrenämter antworten.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Steinmeier,

vorab möchte ich mich herzlich für die Einladung zu Ihrem diesjährigen sehr gelungenen Bürgerfest bedanken. Meine Familie und ich haben diese sehr gern angenommen, hatten einen besonderen Tag und empfinden die Einladung als außerordentliche Wertschätzung und Ehrung meiner ehrenamtlichen Tätigkeiten. Vielen Dank dafür.

In Ihrer Rede zur Eröffnung des Festes plädierten Sie für gesellschaftlichen Zusammenhalt und unterstrichen den Wert des Ehrenamts. Sie sagten, dass es an der Zeit wäre, den „Mutbürgern“ mehr Aufmerksamkeit zu schenken, nachdem man die letzten Jahre damit verbracht hat, „Wutbürgern“ zuzuhören. Mit den „Mutbürgern“ meinten Sie die geladenen Gäste, also implizit auch mich und aus diesem Grunde möchte ich Ihnen schreiben.

Herausforderungen

Ich bin seit etwa zehn Jahren ehrenamtlich im Berliner Bildungswesen aktiv. In dieser Zeit habe ich verschiedenste Ämter ausgeübt, die mich mit den unterschiedlichsten Lebenrealitäten „in Verbindung“ gebracht haben und immer noch bringen, die einem in Familien in all ihrer großstädtischen Vielfalt begegnen können. Die Konflikte, die wir heute gesamtgesellschaftlich erleben und die sich insofern auch in meinen Ehrenämtern zeigen, hängen in meiner Wahrnehmung mit mehreren Faktoren zusammen und ziehen sich durch alle sozialen Schichten, die einem in allgemein bildenden Schulen begegnen:

  1. Ökonomische Abstiegsängste (Inflation und Lebenshaltungskosten, Wohnraummangel etc.).
  2. Soziokulturelle Abstiegsängste („Mein Lebensentwurf ist nicht mehr die „Norm““).
  3. Mangel von Infrastruktur und Personal (Schulplätze, Kitaplätze, Kinderärzte, Pflegeplätze etc…).
  4. Zukunftsängste (z.Bsp. Klimakrise und Kriege).
  5. Das Gefühl, dass der Staat zunehmend repressiv agiert und eigentliche Aufgaben nicht bewältigt.

Seit Jahren ist zu erleben, dass diese Probleme und Herausforderungen, denen politisch begegnet werden muss, bewusst personalisiert, ethnisiert und kulturalisiert werden. In der Folge werden Migranten zur Ursache des Wohnraummangels erklärt, nicht nur die Corona-Pandemie wird für antisemitische Agenden benutzt, queere Menschen werden dafür verantwortlich gemacht, dass wir zu wenige Kinder in diesem Land haben und wenn man dem politischen Diskurs folgt, könnte man glauben, dass alle Probleme gelöst sind, wenn wir nur hart genug gegen Asylsuchende und Migranten vorgehen. Und wir bekämpfen keine Armut, sondern arme Menschen durch Ausgrenzung und das Unterstellen niederer Absichten.

Es ist immer wieder die Rede davon (so auch in Ihrer Rede auf dem Bürgerfest), dass die „Parteien der Mitte“ überzeugende Politikangebote machen müssten, um „die Ränder“ zu schwächen. Aus meiner Sicht geht dieser Gedanke – mit Verlaub – am eigentlichen Kern des Problems vorbei, denn das, was seit Jahren Jahren zu erleben ist, ist kein Erstarken der politischen Ränder, sondern eine Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte, weil diese den Druck, den die genannten Probleme verursachen, zu kanalisieren versucht.

Dass die „Parteien der Mitte“ dieser Radikalisierung mit einer eigenen rhetorischen Aufrüstung begegnen, ist aus meiner Sicht das Gegenteil dessen, was nötig wäre, wenn man die Standards der Demokratie, nämlich Debatte, Kompromiss, Lösung und die gebotene und dafür notwendige rhetorische Mäßigung, schützen möchte. Der Diskurs über Behördenversagen bei der Ausweisung ausreisepflichtiger Asylbewerber ist eskaliert worden in einen Diskurs, der sämtliche Menschen, denen ein tatsächlicher oder vermeintlicher Migrationshintergrund anzusehen ist, in den Verdacht der Kriminalität stellt, sie als allgemeine Bedrohung markiert und sie in ihrer Würde herabsetzt.

Freunde von mir, Menschen, die in Deutschland geboren wurden, erleben seit Langem wieder ein Maß an verbaler und auch tätlicher Gewalt auf den Straßen, das an die viel zitierten „Baseballschlägerjahre“ der 1990er Jahre erinnert. Einfach, weil man ihnen ansieht, dass ihre Familien nicht bereits seit 200 Jahren hier leben, sondern vielleicht erst seit den 1960ern. Die Rhetorik beinahe aller Parteien hat daran ihren Anteil, auch, wenn immer wieder erklärt wird, es ginge „nur“ um ausreisepflichtige Ausländer.

Die Stimmung „auf der Straße“ fragt aber nicht nach dem Aufenthaltsstatus und Geburtsort und selbst wenn, ginge es sie nichts an in einem Land, in dem der Staat das Gewaltmonopol hat.

Solingen

Auf der Trauerfeier für die Opfer des entsetzlichen Attentats von Solingen erklärten Sie, dass „Wir aus gutem Grund ein Land sind, das Menschen aufnimmt, die Schutz vor politischer Verfolgung und Krieg suchen“, schränkten jedoch ein, dass „wir“ die Freiwilligen und Ehrenamtlichen nicht überfordern dürften und stellten dar, dass man erwarten können muss, dass Menschen, die hierher kommen, sich an Recht und Gesetz halten.

Überforderungen

Als Ehrenamtlicher möchte ich Ihnen antworten, dass die Überforderung nicht dadurch entsteht, dass Menschen nach Deutschland kommen, sondern dadurch, dass der Staat sich in den vergangenen mindestens 25 Jahren aus zu vielen seiner Verantwortungen herausgezogen und öffentliche Infrastruktur vernachlässigt hat. (Meine) Überforderung entsteht nicht dadurch, dass es arme Menschen, gleich welcher Herkunft oder Ursache ihrer Armut gibt, die eine Beratung brauchen, wo sie dieses oder jenes bekommen oder beantragen können, oder erfahren.

Überforderung entsteht dann, wenn man als Ehrenamtlicher erkennen muss, dass Menschen beispielsweise aus dem Teufelskreis „Jobcenter-Tafel-Minijob“ nicht herauskommen, weil die Hauptamtlichen in der persönlichen Begleitung fehlen, die diese komplexe Aufgabe angehen können und weil die Strukturen im Arbeits- und Sozialrecht fehlen, die verhindern, dass Menschen überhaupt erst (häufig trotz Arbeit) in diesen Teufelskreis geraten.

Oder wenn Strukturen fehlen, die Asylsuchenden das Finden von Wohnungen erschweren und wenn diese dann in der Obdachlosigkeit landen. Wenn man feststellen muss, dass eine Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse oder fehlende Sprachkurse häufig die eigentlichen Probleme sind, die Menschen davon abhalten, ihre Biografie wieder in die eigene Hand nehmen zu können.

Überforderung entsteht da, wo Ehrenamtliche Hauptamtliche ersetzen müssen. Überforderung entsteht da, wo man Menschen glauben macht, dass Asylsuchende in Konkurrenz zu Bürgergeldempfängern stehen, welche widerum dem „fleißigen Arbeitnehmer“ was wegnehmen (solche sie übrigens sehr, sehr häufig selbst sind). Überforderung entsteht da, wo Integration von „uns“ aus verweigert wird, weil wir Menschen so viele Vorurteile „überstülpen“, dass sie beinahe zu nichts Anderem mehr kommen, als diese zu dementieren.

Beispielsweise auch, indem „wir“ vorauseilend erklären, dass Menschen, die nach Deutschland kommen, sich an Recht und Gesetz zu halten hätten, als wäre das in der Pauschalität nötig, statt sie willkommen zu heißen und sie zu unterstützen, hier anzukommen und Wurzeln schlagen zu können.

Überforderung bei Kindern entsteht, wenn sie lernen, dass sie – egal, was sie tun – nie dazugehören werden, weil selbst ihre Großeltern nach 60 Jahren leben, lieben und arbeiten in diesem Land immer noch nicht selbstverständlich und unhinterfragt dazugehören dürfen. Mit welchem Recht kritisieren wir migrantische Jugendliche, wenn sie sagen, dass sie sich in Deutschland nicht zu hause fühlen, selbst, wenn sie hier geboren wurden, wenn „das“ unser „Teilhabeangebot“ ist?

Politikerinnen und Politiker auch der demokratischen Parteien tragen für diese heutigen Diskurse und die daraus resultierenden Entscheidungen eine immense Mitverantwortung. Seit Jahren versucht man, Extremisten „einzuholen“, indem man mit Zeitverzögerung ihre Rhetorik und irgendwann auch ihre Programmatik übernimmt, sei es, um mich zu auf zwei Beispiele zu beschränken, im Umgang mit Migranten oder mit Armutsbetroffenen. Es muss doch darum gehen, Menschen zu bestärken und ihnen Teilhabe zu ermöglichen, statt sie noch weiter zu erniedrigen.

Es gibt keine demokratische Politik, mit der man Menschen erreicht, denen die grundgesetzlich verbriefte Menschenwürde, die Gewaltenteilung, das Gewaltmonopol des Staates und viele andere Aspekte demokratischer Verfasstheit einer Gesellschaft und eines Staates ein Dorn im Auge sind.

Mutbürger

Viele Ehrenamtliche, so auch ich, fragen sich, warum es auf die Großdemonstrationen vom Frühjahr diesen Jahres keine substanzielle Antwort des Staates und/oder seiner führenden Repräsentanten gab. Selten hätte es für „die Politik“ einen besseren Moment gegeben, innezuhalten und zu erkennen, dass es eine übergroße Mehrheit von „Mutbürgern“ im Land gibt, die mehr „Miteinander statt Gegeneinander“ möchte. Dieses Miteinander wird möglich, wenn die politisch Verantwortlichen anfangen, die tatsächlichen Aufgaben zu diskutieren und anzugehen, von denen ich ein paar Eingangs benannt habe und diese Probleme nicht mehr zu personalisieren, zu kulturalisieren oder zu ethnisieren.

Der Rechtsextremismus frisst sich mittlerweile durch sämtliche eigentlich gefestigten Demokratien „des Westens“. Es wäre an der Zeit, die strukturellen Ursachen dahinter zu ergründen und sich nicht länger mit vorgeschobenen Debatten aufzuhalten, die suggerieren, er würde verschwinden, wenn wir in Deutschland noch repressiver mit Menschen umgehen, die sich nicht wehren können.

Das Wesen des Extremismus ist die permanente Eskalation, Personalisierung und Trivialisierung bis hin zur Gewalttätigkeit gegen Menschen. Das Wesen der Demokratie besteht aus Kompromiss, dem Anerkennen von Komplexitäten und eigener (auch rhetorischer) Mäßigung. Deshalb können Demokraten auch keinen Eskalationswettbewerb mit Extremisten gewinnen. Ihnen bleibt der Glaube an die eigenen Werte und Überzeugungen und das Vertrauen, dass ein demokratischer Staat sie vor den Feinden der Demokratie und den Feinden der Menschenwürde schützt.

Ich möchte diesen Brief mit einem Wunsch an Sie schließen: bitte nutzen Sie Ihre Position, die politisch Verantwortlichen hieran zu erinnern. Diesen mittlerweile sehr fortgeschrittenen Kampf um Demokratie, Menschenwürde und Teilhabe wird die Zivilgesellschaft allein nicht mehr gewinnen können.

Mit freundlichen Grüßen

Marco Fechner