Warum der fast schon reflexhafte Ruf nach mehr Medienbildung falsch ist.
Es scheint mittlerweile zum guten Ton zu gehören, bei allen Problemen rund um Debattenkultur, Demokratie, Meinungsfreiheit, Extremismus etc. nach „mehr Medienbildung“ zu rufen. Jüngst tat dies erst wieder der Lehrer, Bildungsinfluencer und „Netzlehrer“ Bob Blume und forderte mit Blick auf den Rechtsextremismus in einem Spiegel-Artikel und einer zugehörigen Instagram-Kachel gar „Medienbildung an Schulen muss Pflicht werden.“
Er schilderte bei Instagram ein Experiment, in dem Schüler:innen erstaunt gewesen seien, wie Algorithmen funktionieren und welche Inhalte sie einem ausspielen, abhängig vom eigenen erstellten Nutzerprofil. Solche Rufe zeigen zwar, dass jemand begriffen hat, wie der „Resonanzraum soziales Netzwerk“ funktioniert, aber sie machen die Debatte nicht schlauer.
Jenseits von Fragen des Datenschutzes und der Einbeziehung der Eltern (beides blieb im Beitrag unklar und als Elternteil hätte ich schon noch gern einen Einfluss darauf, welche Apps die Schule mit meinem Kind auf dessen Handy installiert und Daten abzieht und welche Inhalte mein Kind konsumiert) übersieht diese Argumentation ein paar wesentliche Aspekte, die in den einschlägigen Debatten auch von anderen Personen immer wieder übersehen werden:
Medienbildung IST bereits Pflicht von Schulen. Sie ist in der Folge eines KMK-Beschlusses von 2012 und weiterer Entscheidungen sogar dezidierte Querschnittsaufgabe sämtlicher Rahmenlehrpläne geworden. Bundesweit. Die Frage ist eher, weshalb wir dennoch so viele Probleme haben und da wird die Lösung nicht sein „Wir legen jetzt mal alle Fakeprofile an und gucken, was passiert.“
Zudem: Medienbildung ist nicht nur Aufgabe für Kinder und Jugendliche. Jeder Erwachsene, dessen Umfeld Whatsapp-Gruppen betreibt, auf Facebook unterwegs ist oder in anderen sozialen Netzwerken, wird dies bestätigen können. Es wird in diesen Debatten regelmäßig nicht berücksichtigt, dass auch „wir Erwachsenen“ hier einen erheblichen Bedarf haben und auch Lehrkräfte, die diese Medienbildung übernehmen sollen, finden oft nicht die geeigneten Fortbildungsangebote. Insofern: ja, es geht um Medienbildung, aber nicht ausschließlich und auch nicht nur für Jugendliche.
Es geht um Allgemeinbildung.
Selbstverständlich ist es notwendig, darüber aufzuklären, wie Algorithmen von Netzwerken funktionieren, welchen Zweck sie haben und weshalb ihre primäre Aufgabe nicht darin besteht, dem Funktionieren des Gemeinwesens zu dienen.
- Wenn ich als Bürger weiß, weshalb Verfassungsrichter:innen zwar vom Bundestag gewählt werden, aber ohne öffentliche Aussprache, dann ist es völlig egal, ob mir diesbezügliche Desinformation in Netzwerk A, B oder C begegnet.
- Besonders viel habe ich gelernt, wenn ich begreife, dass „Nutzer“ und „Bürger“ verschiedene Kategorien sind.
- Wenn ich weiß, weshalb Richter:innen nicht dem „Volkswillen“ zu dienen haben, sondern der Rechtsfindung (was die CDU-Bundestagsabgeordnete Saskia Ludwig erst kürzlich bei „X“ behauptete), dann erkenne ich autoritäres Gerede, das die Gewaltenteilung untergräbt, auch dann, wenn ich die Funktionsweise des benutzten Algorithmus nicht kenne und eigentlich davon ausgehen möchte, dass die Veröffentlichungen von Bundestagsmitgliedern seriös sind.
- Wenn ich weiß, dass Staat und Wirtschaft nicht das gleiche sind und nicht das gleiche sein dürfen, weil die jeweiligen Interessen nicht die Gleichen sind, dann erkenne ich sowohl rechtsextremes und libertäres, als auch linksextremes Gerede in den sozialen Netzwerken.
- Wenn ich begreife, warum die Nutzung sozialer Netzwerke insbesondere durch Politiker:innen und Journalist:innen ein demokratisches Dilemma ist, um dann zu überlegen, wie man dieses lösen könnte und mit welchen Instrumenten, dann sind wir wirklich vorangekommen.
Ich glaube, wir brauchen mehr Allgemeinbildung, mehr Demokratiebildung, mehr ernstgemeinte Teilhabemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche und vor Allem eine größere Berücksichtigung der Interessen von Kindern, Jugendlichen und auch Familien.
Denn wenn Jugendliche das Gefühl haben, dass die Gesellschaft auf Ihre Belange keine Rücksicht nimmt, sei es bei der Klimakrise, bei der Qualität der Schulen, bei den Chancen junger Erwachsener am Wohnungsmarkt und an vielen anderen Stellen, dann bringt mir auch die beste Allgemein- Demokratie- und Medienbildung nichts.
Und wenn wir schonmal dabei sind: wenn wir schon permanent (zu Recht) die sozialen Netzwerke kritisieren, dann sollten wir sie auch so regulieren, dass sie tatsächlich dem Gemeinwesen dienen können. Dann müssen wir auch nicht Kinder und Jugendliche in die Pflicht dafür nehmen, uns Erwachsenen (die diese Netzwerke geschaffen und zu ihrem Wachsen beigetragen haben) unseren Dreck hinterherzuräumen.
Danke an dieser Stelle an Etep_Isolde für die Rechercheunterstützung.